Paul Wahl
(1906-1944/45)
17.04.1937 Schutzhaftanordnung durch Gestapo Saarbrücken
03.05.1937 KZ Dachau
09.05.1939 KZ Mauthausen
02.07.1942 KZ Stutthof
13.06.1944 Entlassung aus KZ Stutthof
Paul Wahl wurde am 6. Juni 1906 geboren. Die Eltern waren der 1874 geborene Fabrikarbeiter und spätere selbständige Landschaftsgärtner, Wengerter und Trockenmaurer Gottlob Wahl und die 1878 geborene Hausfrau Luise, geborene Krämer. Paul hatte vier Geschwister, darunter Otto Wahl, der aus politischen Gründen Opfer des NS-Terrors wurde und ebenfalls die Konzentrationslager Dachau und Mauthausen durchmachen musste. Die Familie lebte in Rohracker (damals Oberamt Cannstatt, heute ein Stuttgarter Stadtteil) in der Rohrackerstraße 248.
Paul Wahl war von Beruf Elektroinstallateur, er selbst bezeichnete sich aber auch als „Kaufmann“. Sein als unsolide wahrgenommener Lebensstil stieß in der Familie auf wenig Akzeptanz. Den Erinnerungen eines Neffen zufolge gab es Anfang der 1930er Jahre ein Zerwürfnis in der Familie und Paul sei in der Folge dann irgendwann ausgezogen. Es hieß, dass er eine Freundin aus reichem Haus gehabt habe und sich deshalb ein Auto habe leisten können.
Aus noch erhaltenen Unterlagen des Amtsgerichts Stuttgart geht hervor, dass Paul Wahl seit Ende 1931 ein Verhältnis zu der aus Kleinsteinbach (Karlsruhe) stammenden „Dirne“ Lina W. unterhielt, die damals in der Schlosserstraße in Stuttgart wohnte. Paul Wahl wurde deshalb im Dezember 1932 zu einer Gefängnisstrafe wegen Zuhälterei verurteilt. Wenige Tage nach diesem Urteil standen Lina W. und Paul Wahl, der bereits im Gerichtsgefängnis in Stuttgart einsaß, wegen des Vorwurfs der gemeinschaftlichen Erpressung eines Freiers zusammen vor Gericht. Wahl war zu dieser Zeit bereits 11 mal vorbestraft, hauptsächlich wegen Betrugs und Rückfallbetrugs zum Teil in Tateinheit mit Urkundenfälschung, sowie wegen Diebstahls und Unterschlagung. Lina W. hatte Vorstrafen „wegen sittenpolizeilicher Verfehlungen.“
Dem Gericht gelang es in dem Verfahren, den Tatbestand wenigstens teilweise aufzuklären. Demnach hatte Lina W. im Sommer 1932 in Stuttgart den Geschädigten Richard L., einen Fabrikantensohn aus Stuttgart, kennengelernt und in der Folge mehrfach Verkehr mit ihm, wofür dieser hohe Geldbeträge zahlte. Als Lina W. sich einen Pelzmantel wünschte, versprach er ihr dafür zwar eine Anzahlung, brach dann aber, verstimmt über weitere Geldforderungen, die Beziehung zu ihr ab. Paul Wahl und Lina W. versuchten nun zu verhindern, dass diese Geldquelle versiegte. Nachdem Richard L. telefonische Kontaktaufnahmeversuche abgewehrt hatte, verfasste Wahl Briefe an ihn unter dem Namen der Lina W., worauf schließlich eine Aussprache in einem Café zustandekam. Die Unterredung verfolgte Wahl vom Nachbartisch aus. Der Fabrikantensohn wurde mit der Drohung, seinem Vater Mitteilung über das Verhältnis zu der Prostituierten zu machen, dazu gebracht, Lina W. sein Sparkassenbuch mit einem Guthaben von 1835.- Reichsmark auszuhändigen. Die Frau versprach, lediglich 300.- Mark abzuheben und danach das Sparbuch seinem Besitzer zurückzugeben. Tatsächlich reichte sie das Sparbuch umgehend an Wahl weiter, der gleich am nächsten Morgen von dem Sparguthaben 1500.- RM abhob und seine Partnerin veranlasste, sich noch am Nachmittag weitere 330.- RM auszahlen zu lassen, sodass von dem gesamten Guthaben nur noch 5.- RM übrigblieben. Paul Wahl hatte danach, wie das Gericht empört feststellte, „nichts Eiligeres zu tun, als die gesamten 1830.- RM so schnell als möglich zu verbrauchen. Er bezahlte von dem Geld die Restschuld der W. für den Pelzmantel in Höhe von 135 RM, kaufte für sich und die W. Kleidungsstücke und Wäsche, beglich die rückständige Miete der W. und den laufenden Mietsbetrag, kaufte der W. um 125 RM einen Brillantring und sich selbst um 80 RM eine goldene Uhr und kaufte endlich für sich einen gebrauchten Hanomag um 800 RM, von dem er 600 RM anzahlte. Als die Kriminalpolizei am 16.11.1932, also eine Woche nach Abhebung des Geldes, einschritt, war von dem Geld nichts mehr vorhanden“.
Da der Tatbestand einer vollendeten Erpressung nicht mit letzter Sicherheit nachzuweisen war, wurde Paul Wahl lediglich wegen versuchter Erpressung verurteilt. Lina W. wurde mangels Beweises freigesprochen. Paul Wahl erhielt wegen der Erpressung und der bereits abgeurteilten Zuhälterei eine Gesamtstrafe von fünf Monaten Gefängnis. Für das Gericht wog der – eigentlich nicht strafbare – Verstoß gegen schwäbische Sparsamkeitstugenden in seiner Urteilsbegründung besonders schwer: „Weil der Angeklagte Wahl den Erpressungsversuch als Zuhälter der W. begangen und in der heutigen Notzeit den hohen ihm in die Hände gefallenen Betrag in so kurzer und teilweise sinnloser Weise verschleudert hat, musste auf eine ganz empfindliche Strafe erkannt werden.“
Seine Strafe verbüßte Paul Wahl im Landesgefängnis Schwäbisch Hall. Als er am 28. April 1933 wieder auf freien Fuß kam, hatten sich mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten die politischen Verhältnisse in Deutschland grundlegend geändert. Wie weit dies sein Verhalten in der Folgezeit bestimmte, lässt sich vermutlich nicht mehr eindeutig klären.
Paul zog nach Saarbrücken, wo nun auch Lina W. wohnte und arbeitete. Möglicherweise unterhielt er Kontakte zu regimefeindlichen Kreisen. Vielleicht war auch der bloße Umzug nach Saarbrücken in der Kombination mit der Tatsache, dass sein Bruder Otto sich bekanntermaßen kommunistisch betätigte, Grund genug, dass er ins Visier der Gestapo, also der politischen Polizei, geriet. Im Saargebiet, das eine Sonderstellung mit einer vom Völkerbundsrat ernannten internationalen Regierungskommission als Völkerbundsmandat innehatte, hatten zahlreiche NS-Gegner Zuflucht gesucht, bis sie wegen des am 1. März 1935 erfolgenden Anschlusses des Saarlands an das nationalsozialistische deutsche Reich zu Tausenden nach Frankreich und in andere Länder fliehen mussten.
Auf einer Karteikarte der Gestapostelle Neustadt an der Weinstraße ist vermerkt, dass Paul Wahl in Saarbrücken in der Eisenbahnstraße 70 wohnte, er sich aber – zum Datum des Vermerks vom 22. November 1934 – in Basel aufhalte. Als sein Beruf ist Kaufmann angegeben. Zum 14. Januar 1936, zu einem Zeitpunkt, als die Gestapo im Saarland längst freie Hand hatte, ist als staatspolizeilicher Sachverhalt eingetragen „Emigrant“ und „kommunistischer Kurier“. Die Karteikarte verweist dabei auf eine Akte Lina W. Es ist daher anzunehmen, dass diese staatspolizeilich vernommen wurde und ihre Aussagen zu Paul Wahl den Verdacht aufbrachten oder erhärteten, dieser würde sich als ein Mittelsmann für den Kommunismus betätigen.
Seit 28. Dezember 1936 war Paul Wahl als von Stuttgart zugezogen in Saarbrücken amtlich gemeldet; als seine Adresse wird die Försterstraße 40 angegeben. Die Gestapo erblickte – ob zu Recht oder zu Unrecht – in Paul Wahl weiterhin einen Staatsfeind oder Unsicherheitsfaktor. Am 17. April 1937 ordnete sie Schutzhaft – also die Einweisung ins Konzentrationslager – an. Zuständig hierfür war nun die nach der Eingliederung des Saargebiets ins Deutsche Reich errichtete Staatspolizeistelle im Saarbrücker Schloss.
Am Montag, dem 3. Mai 1937 traf Paul Wahl als „Neuzugang“ im KZ Dachau ein. Er erhielt die Häftlingsnummer 12155 mit den Zusatz „E“ bzw. „Em.“, was bedeutete, dass er als „Emigrant“ kategorisiert wurde. Mit dieser Häftlingskategorie wurden deutsche Staatsbürger erfasst, die nach der NS-Machtübernahme das Land verlassen hatten, dann aber zurückgekehrt waren und deshalb potentiell unter Spionageverdacht standen. Es handelte sich um eine relativ kleine Gruppe von Häftlingen. Im September/Oktober 1938 scheint Paul Wahl vorübergehend im KZ Buchenwald gewesen zu sein. Am 12. Oktober 1938 wurde er von der Politischen Abteilung des KZ Dachau umkategorisiert zu „AZR“ (Arbeitszwang Reich). Damit galt er nicht mehr als Gestapo-Häftling; zuständig für ihn war fortan die Kriminalpolizeileitstelle Stuttgart, die ihn als „arbeitsscheu“ einstufte.
Am 8. Mai 1939 wurde er mit einem mehrere Hundert Häftlinge umfassenden Sammeltransport von Dachau in das KZ Mauthausen überstellt, wo er am folgenden Tag als Häftling Nummer 7987 „AZR“ registriert wurde. Im Lager wurde er zusammen mit weiteren deutschen und österreichischen Häftlingen seiner Altersgruppe von einer Militärkommission des Wehrbezirkkommandos Linz gemustert und erhielt einen Wehrpass. Zu einem nicht genannten Zeitpunkt kam er in das Mauthausen-Parallellager Gusen (Häftlingsnummer 56.576), von wo er am 30. Oktober 1941 ins Hauptlager Mauthausen zurückkehrte (neue Häftlingsnummer 886 AZR). Hier bezog er am Tag vor Heiligabend eine Lagerstrafe von 25 Hieben für angebliche „Hehlerei“ und musste zudem drei Tage im Kerker verbringen. Einen Monat später wurde er im Lager einer Hämorrhoidenoperation unterzogen.
Am 28. Juni 1942 wurde er von Mauthausen mit einem mehr als hundert Häftlinge umfassenden Sammeltransport in das KZ Stutthof bei Danzig überstellt, wo er am 2. Juli eintraf. Das Lager Stutthof bedeutete zumindest theoretisch eine gewisse Verbesserung seiner Situation, da dieses Lager im Gegensatz zu Mauthausen als Lager der Stufe I galt, d.h. als Lager für „wenig belastete und unbedingt besserungsfähige“ Häftlinge. Mit auf dem Transport waren u.a. die aus dem heutigen Baden-Württemberg stammenden Häftlinge Adam Merkel, Alfons Schmidberger und Richard Nuber. Nuber zählte als Elektriker zur selben – zehn Häftlinge umfassenden - Facharbeitergruppe wie Paul Wahl.
Im KZ Stutthof trug Paul Wahl die Nummer 14.231 „Arbeitsscheu V.H.“ (V.H. = Vorbeugehaft, was ihn als kriminalpolizeilichen Häftling auswies). Seine Heimatadresse wurde geändert. Statt Saarbrücken war seine Adresse nun die der elterlichen Wohnung in Stuttgart-Rohracker. Unter dem Datum des 25. Februar 1944 erscheint der Name des Lagerelektrikers Paul Wahl auf einer Vorschlagsliste für laufende Prämienzahlungen für Häftlinge. Die Prämie betrug jeweils 2.- Mark. Die Zahlung sollte den offiziellen Angaben zufolge als Anerkennung für "überdurchschnittliche Arbeitsleistung" erfolgen. Was freilich ohne Zusatzinformationen wenig besagt, da es grundsätzlich üblich war, aus welchen Gründen auch immer erfolgende persönliche Zuwendungen an Häftlinge mit deren hoher Arbeitsleistung zu begründen.
Am 13. Juni 1944 wurde Paul Wahl aus dem Konzentrationslager Stutthof entlassen – wahrscheinlich um sofort bei der Wehrmacht zum militärischen Kriegseinsatz herangezogen zu werden. Nicht auszuschließen ist allerdings auch eine Verwendung in einer Strafkompanie. Nach den Kindheitserinnerungen eines Familienmitglieds hat sich Paul, gekleidet in Militäruniform, einige Tage zu Besuch im Haus der Familie in Stuttgart-Rohracker aufgehalten. Über sein weiteres Schicksal liegen uns keine schriftlichen Zeugnisse vor. Nach Angaben von Angehörigen soll er bei Gefechten im Gebiet der späteren Tschechoslowakei gefallen sein.
Die Markierung auf der Übersichtskarte verweist auf Paul Wahls elterliche Wohnung in Stuttgart-Rohracker, Rohrackerstraße 248.
Quellen
ITS Digital Archive, Arolsen Archives
Auskunft v. 29.4.2024
1.1.26.3 Individuelle Unterlagen Männer Mauthausen
1.1.41.2 Individuelle Unterlagen Stutthof
1.1.6.7 Schreibstubenkarten Dachau
DocID: 7361558 (PAUL WAHL)
DocID: 133441110 (Nummernbuch Stutthof)
1.2.3.7 / 12586991 Kartei der Gestapo Neustadt an der Weinstraße
1.1.6.1 / 9909178 Listenmaterial Dachau / Veränderungsmeldung
1.1.6.1 / 9913067 Transportliste vom KZ Dachau nach Mauthausen am 8.5.1939
1.1.26.1 / 1281046 Nummernzugangsbuch der Häftlinge des KZ Mauthausen (Nachkriegsaufstellung)
1.1.26.1 / 1284901 Häftlingsüberstellungen und Entlassungen von Häftlingen des KLM A-Z (Nachkriegsaufstellung)
1.1.26.1 / 1312395 Verzeichnis derjenigen Häftlinge, die einen Wehrpass erhalten haben
1.1.26.1 / 1312354 Listenmaterial Mauthausen, Liste der ungedienten Männer des Jahrgangs 1906
1.1.26.1 / 128840 Operationsbuch des KLM
1.1.26.1 / 1308139 Veränderungsmeldungen des KLM für 28. Juni 1942
1.1.26.1 / 1308144 Veränderungsmeldungen des KLM, Transportliste 28.6.42 nach Stutthof, Aufteilung nach Facharbeitergruppen
1.1.41.1 / 4397706 Einlieferungsbuch des KL Stutthof
1.1.41.1 / 4401217 Zugangslisten KL Stutthof
1.1.41.1 / 4404290 Vorschlagslisten für Prämienauszahlungen an Häftlinge des KZ Stutthof
1.1.41.1 / 4404912 Verzeichnis des KL Stutthof zur Sozialversicherung von Häftlingen
Staatsarchiv Ludwigsburg
E 356 d V Bü 1573
F 302 III Bü 172
Stadtarchiv Saarbrücken
Auskunft vom 8.3.2024 an Hermann Abmayr
© Text und Recherche:
Roland Maier, Stuttgart.
Stand: Mai 2024
www.kz-mauthausen-bw.de
17.04.1937 Schutzhaftanordnung durch Gestapo Saarbrücken
03.05.1937 KZ Dachau
09.05.1939 KZ Mauthausen
02.07.1942 KZ Stutthof
13.06.1944 Entlassung aus KZ Stutthof
Paul Wahl wurde am 6. Juni 1906 geboren. Die Eltern waren der 1874 geborene Fabrikarbeiter und spätere selbständige Landschaftsgärtner, Wengerter und Trockenmaurer Gottlob Wahl und die 1878 geborene Hausfrau Luise, geborene Krämer. Paul hatte vier Geschwister, darunter Otto Wahl, der aus politischen Gründen Opfer des NS-Terrors wurde und ebenfalls die Konzentrationslager Dachau und Mauthausen durchmachen musste. Die Familie lebte in Rohracker (damals Oberamt Cannstatt, heute ein Stuttgarter Stadtteil) in der Rohrackerstraße 248.
Paul Wahl war von Beruf Elektroinstallateur, er selbst bezeichnete sich aber auch als „Kaufmann“. Sein als unsolide wahrgenommener Lebensstil stieß in der Familie auf wenig Akzeptanz. Den Erinnerungen eines Neffen zufolge gab es Anfang der 1930er Jahre ein Zerwürfnis in der Familie und Paul sei in der Folge dann irgendwann ausgezogen. Es hieß, dass er eine Freundin aus reichem Haus gehabt habe und sich deshalb ein Auto habe leisten können.
Aus noch erhaltenen Unterlagen des Amtsgerichts Stuttgart geht hervor, dass Paul Wahl seit Ende 1931 ein Verhältnis zu der aus Kleinsteinbach (Karlsruhe) stammenden „Dirne“ Lina W. unterhielt, die damals in der Schlosserstraße in Stuttgart wohnte. Paul Wahl wurde deshalb im Dezember 1932 zu einer Gefängnisstrafe wegen Zuhälterei verurteilt. Wenige Tage nach diesem Urteil standen Lina W. und Paul Wahl, der bereits im Gerichtsgefängnis in Stuttgart einsaß, wegen des Vorwurfs der gemeinschaftlichen Erpressung eines Freiers zusammen vor Gericht. Wahl war zu dieser Zeit bereits 11 mal vorbestraft, hauptsächlich wegen Betrugs und Rückfallbetrugs zum Teil in Tateinheit mit Urkundenfälschung, sowie wegen Diebstahls und Unterschlagung. Lina W. hatte Vorstrafen „wegen sittenpolizeilicher Verfehlungen.“
Dem Gericht gelang es in dem Verfahren, den Tatbestand wenigstens teilweise aufzuklären. Demnach hatte Lina W. im Sommer 1932 in Stuttgart den Geschädigten Richard L., einen Fabrikantensohn aus Stuttgart, kennengelernt und in der Folge mehrfach Verkehr mit ihm, wofür dieser hohe Geldbeträge zahlte. Als Lina W. sich einen Pelzmantel wünschte, versprach er ihr dafür zwar eine Anzahlung, brach dann aber, verstimmt über weitere Geldforderungen, die Beziehung zu ihr ab. Paul Wahl und Lina W. versuchten nun zu verhindern, dass diese Geldquelle versiegte. Nachdem Richard L. telefonische Kontaktaufnahmeversuche abgewehrt hatte, verfasste Wahl Briefe an ihn unter dem Namen der Lina W., worauf schließlich eine Aussprache in einem Café zustandekam. Die Unterredung verfolgte Wahl vom Nachbartisch aus. Der Fabrikantensohn wurde mit der Drohung, seinem Vater Mitteilung über das Verhältnis zu der Prostituierten zu machen, dazu gebracht, Lina W. sein Sparkassenbuch mit einem Guthaben von 1835.- Reichsmark auszuhändigen. Die Frau versprach, lediglich 300.- Mark abzuheben und danach das Sparbuch seinem Besitzer zurückzugeben. Tatsächlich reichte sie das Sparbuch umgehend an Wahl weiter, der gleich am nächsten Morgen von dem Sparguthaben 1500.- RM abhob und seine Partnerin veranlasste, sich noch am Nachmittag weitere 330.- RM auszahlen zu lassen, sodass von dem gesamten Guthaben nur noch 5.- RM übrigblieben. Paul Wahl hatte danach, wie das Gericht empört feststellte, „nichts Eiligeres zu tun, als die gesamten 1830.- RM so schnell als möglich zu verbrauchen. Er bezahlte von dem Geld die Restschuld der W. für den Pelzmantel in Höhe von 135 RM, kaufte für sich und die W. Kleidungsstücke und Wäsche, beglich die rückständige Miete der W. und den laufenden Mietsbetrag, kaufte der W. um 125 RM einen Brillantring und sich selbst um 80 RM eine goldene Uhr und kaufte endlich für sich einen gebrauchten Hanomag um 800 RM, von dem er 600 RM anzahlte. Als die Kriminalpolizei am 16.11.1932, also eine Woche nach Abhebung des Geldes, einschritt, war von dem Geld nichts mehr vorhanden“.
Da der Tatbestand einer vollendeten Erpressung nicht mit letzter Sicherheit nachzuweisen war, wurde Paul Wahl lediglich wegen versuchter Erpressung verurteilt. Lina W. wurde mangels Beweises freigesprochen. Paul Wahl erhielt wegen der Erpressung und der bereits abgeurteilten Zuhälterei eine Gesamtstrafe von fünf Monaten Gefängnis. Für das Gericht wog der – eigentlich nicht strafbare – Verstoß gegen schwäbische Sparsamkeitstugenden in seiner Urteilsbegründung besonders schwer: „Weil der Angeklagte Wahl den Erpressungsversuch als Zuhälter der W. begangen und in der heutigen Notzeit den hohen ihm in die Hände gefallenen Betrag in so kurzer und teilweise sinnloser Weise verschleudert hat, musste auf eine ganz empfindliche Strafe erkannt werden.“
Seine Strafe verbüßte Paul Wahl im Landesgefängnis Schwäbisch Hall. Als er am 28. April 1933 wieder auf freien Fuß kam, hatten sich mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten die politischen Verhältnisse in Deutschland grundlegend geändert. Wie weit dies sein Verhalten in der Folgezeit bestimmte, lässt sich vermutlich nicht mehr eindeutig klären.
Paul zog nach Saarbrücken, wo nun auch Lina W. wohnte und arbeitete. Möglicherweise unterhielt er Kontakte zu regimefeindlichen Kreisen. Vielleicht war auch der bloße Umzug nach Saarbrücken in der Kombination mit der Tatsache, dass sein Bruder Otto sich bekanntermaßen kommunistisch betätigte, Grund genug, dass er ins Visier der Gestapo, also der politischen Polizei, geriet. Im Saargebiet, das eine Sonderstellung mit einer vom Völkerbundsrat ernannten internationalen Regierungskommission als Völkerbundsmandat innehatte, hatten zahlreiche NS-Gegner Zuflucht gesucht, bis sie wegen des am 1. März 1935 erfolgenden Anschlusses des Saarlands an das nationalsozialistische deutsche Reich zu Tausenden nach Frankreich und in andere Länder fliehen mussten.
Auf einer Karteikarte der Gestapostelle Neustadt an der Weinstraße ist vermerkt, dass Paul Wahl in Saarbrücken in der Eisenbahnstraße 70 wohnte, er sich aber – zum Datum des Vermerks vom 22. November 1934 – in Basel aufhalte. Als sein Beruf ist Kaufmann angegeben. Zum 14. Januar 1936, zu einem Zeitpunkt, als die Gestapo im Saarland längst freie Hand hatte, ist als staatspolizeilicher Sachverhalt eingetragen „Emigrant“ und „kommunistischer Kurier“. Die Karteikarte verweist dabei auf eine Akte Lina W. Es ist daher anzunehmen, dass diese staatspolizeilich vernommen wurde und ihre Aussagen zu Paul Wahl den Verdacht aufbrachten oder erhärteten, dieser würde sich als ein Mittelsmann für den Kommunismus betätigen.
Seit 28. Dezember 1936 war Paul Wahl als von Stuttgart zugezogen in Saarbrücken amtlich gemeldet; als seine Adresse wird die Försterstraße 40 angegeben. Die Gestapo erblickte – ob zu Recht oder zu Unrecht – in Paul Wahl weiterhin einen Staatsfeind oder Unsicherheitsfaktor. Am 17. April 1937 ordnete sie Schutzhaft – also die Einweisung ins Konzentrationslager – an. Zuständig hierfür war nun die nach der Eingliederung des Saargebiets ins Deutsche Reich errichtete Staatspolizeistelle im Saarbrücker Schloss.
Am Montag, dem 3. Mai 1937 traf Paul Wahl als „Neuzugang“ im KZ Dachau ein. Er erhielt die Häftlingsnummer 12155 mit den Zusatz „E“ bzw. „Em.“, was bedeutete, dass er als „Emigrant“ kategorisiert wurde. Mit dieser Häftlingskategorie wurden deutsche Staatsbürger erfasst, die nach der NS-Machtübernahme das Land verlassen hatten, dann aber zurückgekehrt waren und deshalb potentiell unter Spionageverdacht standen. Es handelte sich um eine relativ kleine Gruppe von Häftlingen. Im September/Oktober 1938 scheint Paul Wahl vorübergehend im KZ Buchenwald gewesen zu sein. Am 12. Oktober 1938 wurde er von der Politischen Abteilung des KZ Dachau umkategorisiert zu „AZR“ (Arbeitszwang Reich). Damit galt er nicht mehr als Gestapo-Häftling; zuständig für ihn war fortan die Kriminalpolizeileitstelle Stuttgart, die ihn als „arbeitsscheu“ einstufte.
Am 8. Mai 1939 wurde er mit einem mehrere Hundert Häftlinge umfassenden Sammeltransport von Dachau in das KZ Mauthausen überstellt, wo er am folgenden Tag als Häftling Nummer 7987 „AZR“ registriert wurde. Im Lager wurde er zusammen mit weiteren deutschen und österreichischen Häftlingen seiner Altersgruppe von einer Militärkommission des Wehrbezirkkommandos Linz gemustert und erhielt einen Wehrpass. Zu einem nicht genannten Zeitpunkt kam er in das Mauthausen-Parallellager Gusen (Häftlingsnummer 56.576), von wo er am 30. Oktober 1941 ins Hauptlager Mauthausen zurückkehrte (neue Häftlingsnummer 886 AZR). Hier bezog er am Tag vor Heiligabend eine Lagerstrafe von 25 Hieben für angebliche „Hehlerei“ und musste zudem drei Tage im Kerker verbringen. Einen Monat später wurde er im Lager einer Hämorrhoidenoperation unterzogen.
Am 28. Juni 1942 wurde er von Mauthausen mit einem mehr als hundert Häftlinge umfassenden Sammeltransport in das KZ Stutthof bei Danzig überstellt, wo er am 2. Juli eintraf. Das Lager Stutthof bedeutete zumindest theoretisch eine gewisse Verbesserung seiner Situation, da dieses Lager im Gegensatz zu Mauthausen als Lager der Stufe I galt, d.h. als Lager für „wenig belastete und unbedingt besserungsfähige“ Häftlinge. Mit auf dem Transport waren u.a. die aus dem heutigen Baden-Württemberg stammenden Häftlinge Adam Merkel, Alfons Schmidberger und Richard Nuber. Nuber zählte als Elektriker zur selben – zehn Häftlinge umfassenden - Facharbeitergruppe wie Paul Wahl.
Im KZ Stutthof trug Paul Wahl die Nummer 14.231 „Arbeitsscheu V.H.“ (V.H. = Vorbeugehaft, was ihn als kriminalpolizeilichen Häftling auswies). Seine Heimatadresse wurde geändert. Statt Saarbrücken war seine Adresse nun die der elterlichen Wohnung in Stuttgart-Rohracker. Unter dem Datum des 25. Februar 1944 erscheint der Name des Lagerelektrikers Paul Wahl auf einer Vorschlagsliste für laufende Prämienzahlungen für Häftlinge. Die Prämie betrug jeweils 2.- Mark. Die Zahlung sollte den offiziellen Angaben zufolge als Anerkennung für "überdurchschnittliche Arbeitsleistung" erfolgen. Was freilich ohne Zusatzinformationen wenig besagt, da es grundsätzlich üblich war, aus welchen Gründen auch immer erfolgende persönliche Zuwendungen an Häftlinge mit deren hoher Arbeitsleistung zu begründen.
Am 13. Juni 1944 wurde Paul Wahl aus dem Konzentrationslager Stutthof entlassen – wahrscheinlich um sofort bei der Wehrmacht zum militärischen Kriegseinsatz herangezogen zu werden. Nicht auszuschließen ist allerdings auch eine Verwendung in einer Strafkompanie. Nach den Kindheitserinnerungen eines Familienmitglieds hat sich Paul, gekleidet in Militäruniform, einige Tage zu Besuch im Haus der Familie in Stuttgart-Rohracker aufgehalten. Über sein weiteres Schicksal liegen uns keine schriftlichen Zeugnisse vor. Nach Angaben von Angehörigen soll er bei Gefechten im Gebiet der späteren Tschechoslowakei gefallen sein.
Die Markierung auf der Übersichtskarte verweist auf Paul Wahls elterliche Wohnung in Stuttgart-Rohracker, Rohrackerstraße 248.
Quellen
ITS Digital Archive, Arolsen Archives
Auskunft v. 29.4.2024
1.1.26.3 Individuelle Unterlagen Männer Mauthausen
1.1.41.2 Individuelle Unterlagen Stutthof
1.1.6.7 Schreibstubenkarten Dachau
DocID: 7361558 (PAUL WAHL)
DocID: 133441110 (Nummernbuch Stutthof)
1.2.3.7 / 12586991 Kartei der Gestapo Neustadt an der Weinstraße
1.1.6.1 / 9909178 Listenmaterial Dachau / Veränderungsmeldung
1.1.6.1 / 9913067 Transportliste vom KZ Dachau nach Mauthausen am 8.5.1939
1.1.26.1 / 1281046 Nummernzugangsbuch der Häftlinge des KZ Mauthausen (Nachkriegsaufstellung)
1.1.26.1 / 1284901 Häftlingsüberstellungen und Entlassungen von Häftlingen des KLM A-Z (Nachkriegsaufstellung)
1.1.26.1 / 1312395 Verzeichnis derjenigen Häftlinge, die einen Wehrpass erhalten haben
1.1.26.1 / 1312354 Listenmaterial Mauthausen, Liste der ungedienten Männer des Jahrgangs 1906
1.1.26.1 / 128840 Operationsbuch des KLM
1.1.26.1 / 1308139 Veränderungsmeldungen des KLM für 28. Juni 1942
1.1.26.1 / 1308144 Veränderungsmeldungen des KLM, Transportliste 28.6.42 nach Stutthof, Aufteilung nach Facharbeitergruppen
1.1.41.1 / 4397706 Einlieferungsbuch des KL Stutthof
1.1.41.1 / 4401217 Zugangslisten KL Stutthof
1.1.41.1 / 4404290 Vorschlagslisten für Prämienauszahlungen an Häftlinge des KZ Stutthof
1.1.41.1 / 4404912 Verzeichnis des KL Stutthof zur Sozialversicherung von Häftlingen
Staatsarchiv Ludwigsburg
E 356 d V Bü 1573
F 302 III Bü 172
Stadtarchiv Saarbrücken
Auskunft vom 8.3.2024 an Hermann Abmayr
© Text und Recherche:
Roland Maier, Stuttgart.
Stand: Mai 2024
www.kz-mauthausen-bw.de