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Heinrich Talmon-Groß (1882 - 1945)

Sozialdemokrat, Gewerkschafter und Gemeinderat in Schorndorf

28.04.1933 bis 18.12.1933 KZ Heuberg
05.09.1936 erneute Verhaftung, Gefängnis Rottenburg
09.04.1937 KZ Dachau
27.09.1939 KZ Mauthausen
18.02.1940 KZ Dachau
20.02.1945 gestorben im KZ Dachau

Image
Talmon_Groß Arolsen
Heinrich Talmon-Groß, ITS Digital Archive,
Arolsen Archives Dok. 125843612

Heinrich Talmon-Groß wurde am 2. August 1882 in dem Waldenserort Neuhengstett (heute ein Ortsteil der Gemeinde Althengstett im Landkreis Calw) geboren. Dort hatten sich seit Ende des 17. Jahrhunderts aus Piemont und Savoyen stammende protestantische Glaubensflüchtlinge niedergelassen. Seit alters her lebte hier auch eine Waldenserfamilie namens Talmon. Heinrich selbst entstammte einer kinderreichen Arbeiterfamilie und war gelernter Zigarrenmacher. Seit 1900 war er verheiratet und hatte vier Kinder. 1901 kam er nach Schondorf, wo auch seine Tätigkeit in der Sozialdemokratischen Partei und in der Gewerkschaft begann. Seit April 1921 war er hauptamtlicher Gewerkschaftssekretär beim Deutschen Tabakarbeiterverband und von August 1925 bis September 1929 Mitglied des Schorndorfer Gemeinderats. 1928 sorgte eine seiner politischen Stellungsnahmen im Gemeinderat für Turbulenzen. In Schorndorf sollte anlässlich der Einweihung des neu angelegten Hindenburgplatzes (heute: Tuller Platz) zu Ehren des Reichspräsidenten ein Festakt stattfinden. Talmon-Groß verwies auf Paul von Hindenburgs Verbindung zu dem demokratiefeindlichen Wehrverband "Stahlhelm" und kritisierte, dass im Rathaussaal ein Bild Hindenburgs und General Ludendorffs hing, was eine Verherrlichung des Krieges und seiner Verbrechen darstelle. Talmon-Groß' Antrag, von den geplanten Feierlichkeiten abzusehen, wurde zwar von der Gemeinderatsmehrheit abgelehnt, nichtsdestotrotz notierte Stadtschultheiß Jakob Raible auf der betreffenden Gemeinderatsakte: „Der Sitzungstag war ein Tag der unauslöschlichen Schande.“ Nach seiner Versetzung durch die Gewerkschaft nach Heidenheim 1929 gab Talmon-Groß sein Gemeinderatsamt in Schorndorf auf. Fortan wohnte er in in Heidenheim an der Brenz in der Friedrichstraße 34, zuletzt in der Schießstraße 4 (Dachau-Schreibstubenkarte) oder 17 (Stolpersteinadresse). Neben seiner hauptamtlichen Tätigkeit im Deutschen Tabakarbeiterverein betätigte er sich weiterhin politisch, wie etwa auf Versammlungen als Wahlredner der SPD.
 
Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme wurde Talmon-Groß am 28. April 1933 verhaftet und bis Dezember 1933 im Schutzhaftlager auf dem Heuberg bei Stetten am Kalten Markt interniert. Nach seiner Entlassung bestritt er seinen Lebensunterhalt als Reisevertreter für Laichinger Leinenwäsche und als selbständiger Zigarrenmacher. Aufgrund einer Denunziation wurde er am 5. September 1936 bei Schorndorf erneut verhaftet. Auf der Grundlage des sogenannten Heimtückegesetzes verurteilte ihn das Sondergericht Stuttgart im Oktober zu viereinhalb Monaten Gefängnis. Im Urteil heißt es über den Tathergang:

 „… gg. 23 Uhr in Miedelsbach Kr. Schorndorf in die Wirtschaft zur Krone. Nach vergeblichem Bemühen, an die 4 anwesenden, ihm unbekannten Gäste in seiner Eigenschaft als Wäschereisender Wäsche zu verkaufen, kam der im übrigen leicht angeheiterte Angeklagte mit den Anwesenden ins Gespräch, das bald politischen Charakter annahm. Im Verlauf desselben äusserte sich der Angekl. dahin, er sei auf dem Heuberg gewesen, dort habe man viel Hiebe und schlechtes Essen bekommen und schliesslich habe man unterschreiben müssen, zu niemand über die Erlebnisse im Konzentrationslager zu reden. Auch meinte der Angekl., das Dritte Reich werde sich schon noch zu Tode laufen. Dieser Äusserungen wegen von dem Zeugen Wachter zu Rede gestellt und festgehalten, redete der Angekl. schliesslich ausserhalb der Wirtschaft und nur dem ihn festnehmenden Wachter gegenüber von Spitzelwesen und mangelnder Freiheit der Bürger, ohne dass die Redewendung im einzelnen heute noch näher festzustellen wäre.“

Die Gefängnisstrafe verbüßte Talmon-Groß in Rottenburg. Der Gefängnisdirektor erhielt die Mitteilung, dass der Württembergische Innenminister am 5. Februar einen Schutzhaftbefehl gegen Talmon-Groß erlassen hatte und dieser am Ende seiner Strafhaft in das Polizeigefängnis Stuttgart II zu überstellen sei. Von dort brachte ihn die Gestapo über das Polizeigefängnis Welzheim am 9. April 1937 in das Konzentrationslager Dachau. Er trug die Häftlingsnummer 12014, Kategorie „Schutz 2x KL“, da er schon einmal im KZ gesessen hatte. Im Zusammenhang mit der zeitweiligen Umnutzung des Lagers nach Kriegsbeginn für Ausbildungszwecke der SS wurde er am 27. September 1939 in das Konzentrationslager Mauthausen verlegt. Am 18. Februar 1940 kam er zurück in das Lager Dachau (Häftlingsnummer 237). Am 20. Februar 1945 verstarb Heinrich Talmon-Groß im Alter von 62 Jahren im KZ Dachau, laut offizieller Todesmeldung "an den Folgen von Enterocolitis im hiesigen Krankenhaus". Die Leiche wurde eingeäschert.

Im Wiedergutmachungsverfahren nach dem Krieg machten Familienmitglieder unter anderem geltend, dass auch sie selbst aus politischen Gründen gesellschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt waren. So schrieb die Witwe Friederike Talmon-Groß am 4. Mai 1949 an die Landesbezirksstelle für die Wiedergutmachung: "Durch die lange Inhaftierung meines Mannes Heinrich Talmon-Gross (8 Jahre, 10 Monate) haben meine Kinder schwer gelitten. Keines meiner Kinder bekam irgendwelche Anstellung in einem Heidenheimer Betrieb. Überall wurden sie abgewiesen, wenn sie nur ihren Namen nannten.“ Frau Groß war noch kurz vor Kriegsende für zwei Monate ins Gefängnis gesteckt worden, weil sie in einem Luftschutzbunker während eines Bombenangriffs Hitler einen Massenmörder genannt hatte.

An Heinrich Talmon-Groß erinnert in Schorndorf eine Straße. Bereits im August 1945 hatte Bürgermeister Gottlob Kamm der von den Nationalsozialisten zuvor in Sudetenstraße umbenannten Fabrikstraße ihren heutigen Namen „Heinrich-Talmon-Groß-Straße“ verliehen. Gottlob Kamm war in der Zeit von April 1946 bis Februar 1948 als Staatsminister für politische Befreiung für die Entnazifizierung in Württemberg-Baden zuständig.

2009 wurde ein Stolperstein vor Talmon-Groß' ehemaligem Wohnhaus in der Neuen Straße 23 in Schorndorf verlegt, 2015 ein Stolperstein in Heidenheim an der Brenz in der Schießstraße 17.

Die Markierung auf der Karte zeigt Talmon-Groß' Wohnadresse Schießstraße 17 in 89520 Heidenheim an der Brenz.

 

Quellen und Literatur

ITS Digital Archive, Arolsen Archives
1.1.6.7 Schreibstubenkarten Dachau
1.1.6.11 Fotokartei des International Information Office Dachau / Talmon-Groß
1.1.6.12 Dachau-Sammlung des Zentralkomitees der befreiten Juden in der US Zone / Kassenanweisungen über die Einnahme der Beträge mit Namenlisten, Bankquittungen und andere Bestätigungen

Staatsarchiv Ludwigsburg
EL 350 I Bü 125
EL 350 I Bü 8534

Theo Kiefner: Von Bourcet nach Neuhengstett, 1685 - 1700. Die Schicksale der Waldenserfamilie Talmon, in: Landkreis Calw: Der Landkreis Calw. 1985. S. 41-47.

Heiner Kleinschmidt (Hg.): Heidenheim zwischen Hakenkreuz und Heidenkopf. Eine lokale Dokumentation zur Nazi-Zeit. Heidenheim 1983.

Ursula Krause-Schmitt: Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933-1945, Baden-Württemberg I. Frankfurt/M. 1991, S. 189 u. 284.

Klaus Reuster: Stolperstein in Schorndorf, in: Heimatblätter 31, Schorndorf 2019, S. 49-58.

Searching Dachau Concentration Camp Records in One Step (https://stevemorse.org/dachau/dachau.html): "Talman-Gross" (sic)

Für die Überzeugung gestorben (www.schorndorf.de)

www.schule-bw.de/faecher-und-schularten/gesellschaftswissenschaftliche-und-philosophische-faecher/landeskunde-landesgeschichte/module/bp_2016/nationalsozialismus_und_zweiter_weltkrieg/terror_und_verfolgung/schorndorf-verfolgung-vor-der-haustuer/ab1.pdf

https://naturfreunde-schorndorf.de/stolpersteine/


© Recherche und Text:
Roland Maier, Stuttgart
Stand: August 2021
www.kz-mauthausen-bw.de