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Wiedergutmachung und Entschädigung

Die Mehrzahl der von uns betrachteten Häftlinge des KZ-Mauthausen aus dem Gebiet des heutigen Baden-Württemberg erhielten nach dem Krieg keine Wiedergutmachungsleistungen. Dasselbe gilt für die Hinterbliebenen der Umgekommenen. Hauptgrund dafür war, dass die Betroffenen nicht die Voraussetzungen erfüllten, die für Wiedergutmachungsleistungen festgelegt waren: die Verfolgung aus politischen, "rassischen" und religiösen Gründen. Menschen beispielsweise, die in der Zeit des Nationalsozialismus als "Berufsverbrecher" stigmatisiert worden waren, verzichteten daher wegen der offensichtlichen Aussichtslosigkeit nach dem Krieg in der Regel von vornherein darauf, einen Wiedergutmachungsantrag zu stellen.

(Der folgende ausführliche Beitrag liefert einen vorläufigen Überblick über Wiedergutmachungsfragen und deren politische Hintergründe allgemein. Er muss noch überarbeitet und durch eine gesonderte Untersuchung speziell zu den von uns betrachteten Häftlingen aus dem Gebiet des heutigen Baden-Württemberg ergänzt werden.)

 

Inhalt

1. Zum Begriff "Wiedergutmachung"
2. Die Alliierten und die Frage der Wiedergutmachung
3. Interessenorganisationen der NS-Opfer
4. Wiedergutmachung in den Westzonen
5. Die US-Zonengesetze über Entschädigung
6. „Klimawechsel“ im Umgang mit den NS-Opfern
7. Ausbau der Wiedergutmachung 1949-1952
8. Überleitungsabkommen 1952
9. Abkommen mit Israel und der JCC
10. Das Bundesentschädigungsgesetz (BEG)
11. Zur BEG-Praxis
12. Die Globalabkomen
13. Globalabkommen 1991 bis 1994
14. Entschädigung für Zwangsarbeit


1. Zum Begriff „Wiedergutmachung“

Der Ausdruck  Wiedergutmachung ist unzutreffend und irreführend, da die Schäden durch Verfolgung, Beraubung, Versklavung, durch Freiheitsentzug und Ermordung unter dem NS-Regime nicht „wieder gut gemacht“ werden können. Das Wort „Wiedergutmachung“ wird daher oft als zynisch empfunden und abgelehnt. Trotzdem ist Wiedergutmachung zu einem gängigen juristischen und politischen Begriff geworden und daher kaum zu umgehen. In Westdeutschland verstand man Wiedergutmachung als Sammelbegriff für Eigentums-Restitution, Entschädigung nach BEG und Entschädigungsleistungen an Israel. Für die DDR galten die BRD-Zahlungen an Israel nicht als Wiedergutmachung, sondern als imperialistisches Geschäft, dafür brachte man die gewaltigen Reparationsleistungen an die Sowjetunion in Anschlag. Österreich sah sich lange zu über Sozialfürsorge hinausreichende Leistungen an NS-Opfer nicht verpflichtet – Österreich als Ganzes präsentierte sich ja als „Opfer“ – , bis man sich auch dort zu weitergehender Entschädigung unter dem offiziellen Titel Wiedergutmachung bekannte.
Von israelischer Seite wurde der Terminus „Wiedergutmachung“ im Sinne von Vergebung der Schuld nicht akzeptiert: „Shilumim“ = Zahlung ohne Tilgung der Schuld.

Forderungen nach Wiedergutmachung wurden früh von verschiedener Seite erhoben, auch schon zu einer Zeit, als sich die Niederlage des nationalsozialistischen Deutschland noch nicht abzeichnete:
So erhob beispielsweise die Exilsozialdemokratie bereits vor dem Krieg eine Forderung nach „Wiedergutmachung“ (Manifest von Hermann Brill u.a. 31.12.1936). Auch die von Hermann Brill u.a. initiierte „Buchenwalder Plattform“ vom 1. Mai 1944 erhob Wiedergutmachungsforderungen: „Bestrafung der Kriegs- und Terrorverbrecher, Wiedergutmachung allen Unrechts“.
In der für den Staatsstreich vom 20. Juli 1944 verfaßten Regierungserklärung Carl Friedrich Goerdelers ist von Einstellung der Judenverfolgung, Auflösung der Konzentrationslager und vage von Eigentumsrückgabe die Rede.


Jüdische Emigranten entwickelten bereits unmittelbar nach Kriegsbeginn Vorstellungen über Entschädigungen – und zwar im Sinne von Reparationen für das europäische Judentum bzw. das „jüdische Volk“ im Hinblick auf das zionistische Projekt.

Heutzutage bezeichnet der Terminus Wiedergutmachung als Sammelbegriff eine Vielzahl unterschiedlicher (materieller) Leistungen an NS-Opfer. Diese Leistungen werden meist in zwei Hauptkategorien unterteilt: Rückerstattung und Entschädigung. Ob und inwiefern  auch  Reparationen und andere nicht-individuelle Entschädigungsleistungen an andere Staaten zum Komplex der Wiedergutmachung zählen, ist umstritten. Reparationen können nur von Siegerstaaten eingefordert werden, nicht von geschädigten Personen. Da bei der Wiedergutmachung oft die Ausgrenzung Nichtdeutscher aus dem Kreis der Anspruchberechtigten beanstandet wird, wären für ein Gesamtbild der Wiedergutmachung die geleisteten Reparationen zu berücksichtigen, ebenso die „Globalverträge“ und vergleichbare Transferleistungen unter anderen Titeln, sowie die Entschädigung für Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter.

Die Formen der Wiedergutmachung umfassen mindestens folgende Teilbereiche:

  • Rückerstattung von Vermögenswerten
  • Entschädigung für die Eingriffe in Lebenschancen
  • Sonderregelungen im öffentlichen Dienst und in der Sozialversicherung
  • juristische Rehabilitierung, Aufhebung von NS-Urteilen
  • Reparationen bzw. zwischenstaatliche Abkommen

 

2. Die Alliierten und die Frage der Wiedergutmachung

Auf der Jalta-Konferenz im Februar 1945 verständigten sich die Alliierten, entgegen den ursprünglichen Vorstellungen der USA, auf eine deutsche  Reparationspflicht. Die Ansprüche gegenüber Deutschland sollten aus den deutschen Besatzungszonen und dem deutschen Auslandsvermögen befriedigt werden. Vom Österreich wurden keine Reparationen gefordert, wohl aber sollte auf dort befindliches deutsches Eigentum zugegriffen werden.

Im Vordergrund der Nachkriegsplanungen der Alliierten standen die Reparationen und die  Restitution geraubten Vermögens; der Frage einer allfälligen „Wiedergutmachung“ für NS-Opfer schenkte man wenig Beachtung. Grundsätzlich wurde die Frage der Entschädigung von den Alliierten als Teilbereich der Reparationen betrachtet. Die USA planten Zahlungen an NS-Opfer (auch an staatenlose) aus den Reparationen.

Bei den Pariser Reparationsverhandlungen wurde Ende 1945 festgelegt, daß das gesamte in Deutschland aufgefundene Gold und das deutsche Auslandsvermögen in Schweden, Portugal und in der Schweiz für die Rehabilitierung und Wiederansiedlung nicht-repatriierbarer NS-Opfer verwendet werden sollte. Dabei ging es um Sofortmaßnahmen für Personen (Displaced Persons [DPs]), für die kein Staat völkerrechtlich zuständig war; späteren Entschädigungsregelungen sollte damit nicht vorgriffen werden. Dieser von Hilfsorganisationen verwaltete Fonds sollte zu 90% jüdischen Flüchtlingen zugute kommen. Für die brennenden akuten  Flüchtlingsprobleme war der Fonds jedoch zu schlecht ausgestattet.

Weitere gemeinsame Maßnahmen der Alliierten zugunsten der NS-Opfer in Deutschland scheiterten an der alliierten Konsensunfähigkeit. In der Folge verlagerte sich Opferfürsorge, Entschädigung und Rückerstattung auf die besatzungszonale Ebene.

 

3. Interessenorganisationen der NS-Opfer

1946 erfolgte die Gründung der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes VVN in allen vier Besatzungszonen als einheitliche Interessenorganisation aller anerkannten deutschen (!) Opfer rassistischer, religiöser oder politischer Verfolgung unabhängig von Parteizugehörigkeit oder Konfession. Im Jahr darauf errichtete man eine VVN-Dachorganisation für ganz Deutschland.
Die VVN war in den ersten Nachkriegsjahren die bestimmende und einflussreiche Interessenorganisation, andere Opferorganisationen neben ihr waren  bedeutungslos. Bald aber begann die geschlossene Einheit der Interessensvertretung zu bröckeln. Für verfolgte Juden entstanden eigene Organisationen (viele deutsche Juden blieben allerdings zunächst in der VVN):
Juli 1950 Gründung des Zentralrats der Juden in Deutschland
Oktober 1951 Zusammenschluss von 22 jüdischen Organisationen zur Jewish Conference on Material Claims against Germany (JCC), nachdem die Bundesrepublik die Bereitschaft signalisiert hatte, mit Israel und Vertretern der Juden in Verhandlung zu treten.

Neben den jüdischen Bemühungen um eigenständige Interessensvertretungen kam es zum politischen Zerfall der VVN. Es verstärkte sich der Einfluß der Kommunisten in der Vereinigung und in einem sich wechselseitig verstärkenden Prozess strebten die anderen Parteien nach Abgrenzung:
Im Mai 1948 erging ein Unvereinbarkeitsbeschluß der SPD mit einer VVN-Mitgliedschaft, und es wurden  SPD-nahe Vertretungen ins Leben gerufen namens Zentralstelle für politisch verfolgte Sozialdemokraten und Arbeitsgemeinschaft für verfolgte Sozialdemokraten (AvS).
Zudem entstanden weitere – wenig bedeutende – Organisationen, beispielsweise auch eine CDU-nahe, oder der Zentralverband der Sterilisierten und Gesundheitsgeschädigten im Bundesgebiet e.V. 1979 kam es zur Gründung des Zentralrats der Sinti und Roma.

In der Bundesrepublik wurde der Einfluss der VVN sukzessive zurückgedrängt. Im September 1950 wurde ein Berufsverbot für VVN-Mitglieder im öffentlichen Dienst verhängt. Im Juli/August 1951 erfogte das Verbot der VVN-Dachorganisation.
Nach dem westdeutschen KPD-Verbot wurde die VVN als kommunistische Tarnorganisation eingestuft. Erst nach Aufhebung der Verbotsurteile gegen die VVN 1967 konnte sie wieder agieren, erlangte aber bei weitem nicht mehr den früheren Einfluss.

Die nach außen geschlossen auftretenden internationalen Organisationen der jüdischen NS-Opfer bestimmten die Entwicklung der Wiedergutmachung wesentlich mit. Nichtjüdische Organisationen im Ausland spielten hingegen kaum eine Rolle. Die Interessenvertretungen in der Bundesrepublik waren – von den jüdischen Organisationen abgesehen – nach dem Zerfall der VVN zersplittert und marginalisiert.


4. Wiedergutmachung in den Westzonen

Zuständig für Unterstützung, Schadensregulierung usw. war der jeweilige Staat, dem der geschädigte (und repatriierte) Bürger angehörte. Übrig blieben die Displaced Persons (DPs). Unter diesen bildeten die „Persecutees“ eine besondere Gruppe: Personen, „deren uneingeschränkte Loyalität zur alliierten Sache feststand“ und die aus rassischen, religiösen oder politischen Gründen beziehungsweise wegen Aktivitäten zugunsten der „Vereinten Nationen“ (nicht aber wegen eines zivilen oder militärischen Vergehens) inhaftiert waren, sowie deren engere Familienangehörige. Die Persecutees hatten Anspruch auf Betreuung und Fürsorge (Bevorzugung bei Wohnungs- und Lebensmittelvergabe, bei Sozialversicherung und Arbeitsplätzen). Dies sollte nur für die unmittelbare Übergangsphase nach dem Krieg gelten, eine dauerhafte Privilegierung war nicht intendiert.
Die von den Ländern unter der US-Militärregierung beschlossenen Gesetze waren mehr auf Fürsorge als auf weitergehende Wiedergutmachung gerichtet. Wiedergutmachung sollten nur "rassisch", religiös und politisch Verfolgte erhalten, kriminelle und "asoziale" NS-Opfer waren explizit ausgeschlossen. Damit war die langwährende Auseinandersetzung um anerkennungswürdige Verfolgungstatbestände eröffnet.
Die Finanzierung sollte durch eine Kopplung von „Sühne“ und Wiedergutmachung erfolgen, subsidiär war aber der Staat verantwortlich. Organisatorisch übernahmen nach den Provisorien die jeweiligen Finanz- oder Justizministerien die Kontrolle über die Wiedergutmachung.

 

5. Die US-Zonengesetze über Entschädigung

In der US-Zone besaß Rückerstattung entzogenen Eigentums Vorrang vor anderen Formen der Wiedergutmachung.
Der Stuttgarter Länderrat der US-Zone (Bayern, Württemberg-Baden und Großhessen) wurde von der US-Militärregierung beauftragt, neben dem (gescheiterten) Restitutionsgesetz ein vorläufiges Entschädigungsgesetz auszuarbeiten. In der Frage der Entschädigung hatte die VVN einigen Einfluss auf die Entscheidungen, im Gegensatz zur Restitution, wo die internationalen jüdischen Organisationen die Szene beherrschten. Das Entschädigungsgesetz sollte eine rasche Rehabilitation und Integration notleidender NS-Opfer bewirken (befristete Renten, Heilbehandlungen), ohne den Rechtsanspruch auf eine spätere umfassende Entschädigung zu beeinträchtigen.

Zu klären war die Frage des anspruchsberechtigten Personenkreises. Ursprünglich war man davon ausgegangen, daß bereits eine KZ-Inhaftierung einen Anspruch auf Wiedergutmachung begründete, ungeachtet der Staatsangehörigkeit. Opfergruppen, die nicht in das Dreierschema politischer, rassistischer oder religiöser Verfolgung passten, wurden gezielt ausgeschlossen, darunter Zwangssterilisierte, Euthanasieopfer, "Asoziale", Kriminelle, Deserteure. Die Hervorhebung des aktiven Widerstandskampfes – wie von Vertretern der politisch Verfolgten gefordert – wurde fallengelassen.

In der Frage der Finanzierung der Wiedergutmachung standen grundsätzlich zwei Möglichkeiten zur Debatte:
a) Heranziehung des Vermögens von „ehemaligen“ Nationalsozialisten. Diese Lösung wurde u.a. von der VVN favorisiert: die Nazis und ihre Nutznießer, sogenannte „Kriegsgewinnler“ sollten für die Wiedergutmachung – auch zugunsten der Kriegsopfer – aufkommen. Diese Finanzierungsoption entsprach der Ablehnung kollektiver Schuld und Verantwortung – und nebenbei wohl auch antikapitalistischen Umverteilungswünschen. Das Konzept der Finanzierung durch „die Schuldigen“ setzte sich zwar anfangs durch, trat aber zunehmend in den Hintergrund – bis schließlich die Währungsreform 1948 durch Entwertung des Parteivermögens und der verhängten Bußgelder dieser Finanzierungsweise den Boden entzog.
b) Finanzierung aus Budgetmitteln. Das Prinzip der öffentlichen Verantwortlichkeit setzte sich durch, die Finanzierung stand damit allerdings auf schwachem Fundament. Grundsätzlich war damit aber festgelegt, daß Wiedergutmachungleistungen durch staatliche Mittel zu erbringen sind.

Frage der Schadenskategorien:
- Hinterbliebene sollten versorgt werden
- gesundheitliche Beinträchtigung von mindestens 30%
- Freiheitsberaubung
- Schäden an Eigentum und wirtschaftlichem Fortkommen

Das – im Gegensatz zum Rückerstattungsgesetz – weitgehend auf deutschen Vorarbeiten beruhende Entschädigungsgesetz wurde 1949 rechtswirksam.

Durchführungspraxis
Da die USA am Thema Entschädigung – anders als in Sachen Restitution – wenig interessiert waren, überließ man die praktische Durchführung der Entschädigung deutschen Stellen. Hauptproblem blieb die ungeklärte Finanzierung. Dies war einer der Gründe, weshalb die Ansprüche meist nur schleppend und mühsam durchgesetzt werden konnten. Um frühzeitig einen Teil der zweiten Rate zu erhalten, willigten viele Antragssteller einem Verzicht auf alle weiteren Ansprüche  zu – oder ließen sich zu dubiosen Geschäften mit ihren Bescheiden verleiten.

Gerichte und Verwaltung schränkten den Berechtigtenkreis ein.
Unter den DPs erhielten nur diejenigen Juden Leistungen, die sich mit Stichtag Jan. 1947 in einem DP-Lager aufgehalten hatten. Nichtjüdische DPs erhielten als sog. „Nationalverfolgte“ keine Entschädigung. Nicht-deutscher Widerstand wurde als nationalistisch und nicht als antinationalsozialistisch motiviert betrachtet. Und die Verfolgung von Bewohnern überfallener Gebiete galt als kriegsbedingt und daher nicht als NS-spezifisches Unrecht.
Nicht-jüdische Bürger ehemalier Feindländer wurden in der Regel mit der Berufung auf vereinbarte oder noch auszuhandelnde Reparationen an ihre eigenen Regierungen verwiesen; zu einer individuellen Regelung für AusländerInnen jenseits von Reparationsleistungen war man nicht bereit.
Das US-Entschädigungsgesetz wurde von den deutschen Stellen sehr restriktiv ausgelegt: die politische Überzeugung der Antragssteller hatte auf „charaktervollen, sittlichen Grundlagen“ zu beruhen, die der Verfolgung vorangehende Tat hatte politisch im engeren Sinn zu sein, humanitäre Motive waren für Entschädigung nicht ausreichend usw. - kurzum: die zuständigen Stellen waren in der Praxis auf eine weitere Eingrenzung des Kreises der Anspruchsberechtigten bedacht.

 

6. „Klimawechsel“ im Umgang mit den NS-Opfern

Als 1949/50 die Entschädigung gerade erst so richtig anlief, wurden die unter alliierter Aufsicht beschlossenen Hilfsmaßnahmen wie die bevorzugte Wohnungs- und Arbeitsplatzvergabe für NS-Verfolgte als „Sonderrechte“ in Frage gestellt und als ungerechtfertigte Bevorzugung abgelehnt. In der öffentlichen Meinung besaß die Versorgung bzw. Entschädigung der deutschen Kriegsopfer (Kriegerwitwen, Luftkriegsopfer) und der deutschen Flüchtlinge Vorrang vor der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte. NS-Opfer und Kriegsopfer erschienen als Opfer eines gemeinsamen Schicksals.
Gleichzeitig wurde auf die Beendigung der Entnazifizierung gedrängt, faktisch war die Rehabilitierung der meisten „Ehemaligen“ bis 1949 erfolgt. Von daher blieben auch Konflikte nicht aus: so mußten beispielsweise NS-Verfolgte, die Wohnungen oder Arbeitsplätze von Belasteten erhalten hatten, den rehabilitierten Ex-Nazis wieder weichen.


7. Ausbau der Wiedergutmachung 1949-1952

Nach der Gründung der BRD 1949 lag eine Vereinheitlichung der auf Zonen- bzw. Länderebene beschlossenen Wiedergutmachungsregelungen nahe. An einem bundeseinheitlichen Entschädigungsgesetz waren v.a. die in- und ausländischen Verfolgtenverbände und die Alliierte Hohe Kommission interesssiert. Innenpolitisch setzte sich die SPD unter Kurt Schumacher dafür ein.

Vorläufig einzige Verbesserung blieb jedoch das Wiedergutmachungsgesetz für Beamte, das „Bundesgesetz zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts für Angehörige des öffentlichen Dienstes“ vom 11. Mai 1951.
Die Verabschiedung dieses Gesetzes geschah paradoxerweise im Schlepptau der Regelung der Belange der im Zuge der Entnazifizierung ausgeschiedenen NS-Beamten, d.h. der Rehabilitierung von Nazis im Staatsdienst. Dies Junktim von Wiedergutmachung für NS- und für Entnazifizierungsgeschädigte wurde seinerzeit nicht als Skandal beanstandet.

 

8. Überleitungsabkommen 1952

Mit dem sogenannten Überleitungsabkommen von 1952 zwischen den Westalliierten und der Bundesrepublik sollten noch offene aus Krieg und Besatzung resultierende Fragen geklärt, das Besatzungsstatut beendet und die BRD in die Souveränität entlassen werden. In diesem Rahmen wurde auch über die Bereiche Rückerstattung und Entschädigung verhandelt.
Strittig war u.a. die Entschädigung der sogenannten "Nationalverfolgten". Deren Entschädigung lehnte die Bundesrepublik ab mit dem Hinweis, deren Verfolgung sei kriegsbedingt gewesen und von daher über Reparationen zu regeln. Die schließlich erreichte Kompromißlösung bestand darin, daß wenigstens staatenlose Flüchtlinge, die aus Gründen der Nationalität verfolgt worden waren und dabei dauernden Gesundheitsschaden erlitten hatten, entschädigt werden sollten.

Mit der angestrebten Westintegration und der Beendigung der Besatzung verpflichtete sich die Bundesrepublik zu einem Ausbau der Wiedergutmachung. Die Vereinbarungen des „Überleitungsabkommens“ bildeten die Grundlage für das Bundesergänzungsgesetz von 1953 bzw. die nachfolgenden Entschädigungsgesetze und das Bundesrückerstattungsgesetz von 1957.

 

9. Abkommen mit Israel und der JCC

Vor dem Hintergrund seiner gravierenden wirtschaftlichen Notlage versuchte der 1948 proklamierte israelische Staat Schadenersatz von Deutschland zu erlangen. Dem Wunsch nach deutschen Leistungen standen allerdings gravierende politische und psychologische Hürden einer offiziellen Kontaktaufnahme mit der BRD entgegen. Erste Geheimverhandlungen zwischen Israel und der BRD im Sommer 1950 galten dem Transfer deutscher Sperrmark mittels Warentransporten nach Israel.
Diese Verhandlungen verliefen unbefriedigend. Israel wandte sich darauf 1951 mit seinen Wiedergutmachungsforderungen an die Siegermächte.

Die internationalen jüdischen Organisationen waren ob der israelischen Initiative anfangs wenig angetan, verstanden sie doch die Wiedergutmachungsangelegenheiten für jüdische Verfolgte als ihr ureigenes und quasi exklusives Ressort. Beispielsweise standen israelische Schadensersatzforderungen gegen Deutschland für zerstörtes, beschlagnahmtes oder erbenloses Einkommen in direkter Konkurrenz zu denen der United Restitution Organisation (URO). Geradezu als ein Affront gegen die internationalen jüdischen Organisationen wurde der von Israel erhobene Alleinvertretungsanspruch mit der Forderung nach Reparationen für das jüdische Volk als Ganzes empfunden. Zudem mußten sich strukturelle Probleme ergeben, standen doch pauschale Reparationsforderungen (d.h. Kollektiventschädigung) im Gegensatz zu den bisher ausgearbeiteten individuellen Wiedergutmachungsformen.
Schließlich verständigte sich Israel mit den jüdischen Organisationen darauf, daß Israel nicht die Judenheit insgesamt, sondern lediglich die von Israel aufgenommenen jüdischen Überlebenden vertrete. Ein Reparationsanspruch sei ausschließlich durch die Eingliederungskosten der Überlebenden in Israel zu begründen. Entsprechend wurde die israelische Forderung errechnet: Israel hatte 500 000 verfolgte Juden aufgenommen, Aufnahmekosten pro Person 3 000 $, macht gesamt 1,5 Mrd. $. Die Forderung teilte sich auf in 1 Mrd. aus West- und 0,5 Mrd. aus Ostdeutschland.

Die Sowjetunion antwortete auf die Israelischen Noten überhaupt nicht, und die drei anderen Siegermächte gaben sich  zurückhaltend. Zum einen stellte Israel mit seinem Anspruch auf Reparationen für das jüdische Volk an Israel die Westmächte vor neuartige völkerrechtliche Probleme: abgesehen von der Frage nach der völkerrechtlichen Existenz einer jüdischen Nation hatte sich der Staat Israel ja nicht mit Deutschland im Krieg befunden  und konnte daher keinen Anspruch auf Reparationen im klassischen Sinn geltend machen. Um solchen völkerrechtlichen Fragen aus dem Weg zu gehen, verzichtete alsdann Israel auf den offiziellen Titel „Reparationen“. Zum andern stand die Aufbürdung zusätzlicher Reparationsbelastungen für die Bundesrepublick den Aufbauplänen der Westmächte entgegen; schließlich hatten deswegen schon Frankreich und Großbritannien ihre Forderungen gegen die Bundesrepublik zurückschrauben müssen. Die israelischen Reparationsforderungen kamen den Westmächten ungelegen, da sie nicht mit der der Bundesrepublik zugedachten künftigen wirtschaftlichen und strategischen Funktion in Einklang standen.

Gegen Transfers an Israel wandten sich auch die arabischen Staaten; die mögliche Gefährdung der guten Beziehungen zu den arabischen Ländern wurde denn auch neben dem Verweis auf die knappe Staatskasse in der Debatte in der Bundesrepublik um die Wiedergutmachung an Israel von den Wiedergutmachungsgegenern ins Feld geführt.

Bundeskanzler Konrad Adenauer erklärte seine Bereitschaft zu Verhandlungen mit Israel. Ein von jüdischer Seite gefordertes Bekenntnis zur Kollektivschuld aller Deutscher lehnte er aber strikt ab. Nächste Schritte waren:
27. September 1951: Regierungserklärung Adenauers vor dem Bundestag über die Rückgabe jüdischen Eigentums und über die Reparationen an das jüdische Volk. Im Namen des deutschen Volkes seien unsagbare Verbrechen an den Juden begangen worden, die Deutschland zur moralischen und materiellen Wiedergutmachung des Schadens und des Leids verpflichteten. Mit dieser Erklärung übernahm die Bundesrepublik – nach gängiger Interpretation – die Verantwortung für die Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschland.
26. Oktober 1951: Gründung der „Conference on Jewish Material Claims Against Germany“ (JCC) in New York. Die Claims Conference vertrat die außerhalb Israels lebenden jüdischen NS-Opfer bei den Verhandlungen mit der Bundesrepublik über Rückgabe und Entschädigung.
6. Dezember 1951: Kanzler Adenauer akzeptierte bei einem Geheimtreffen die jüdisch-israelischen Forderungen: 2/3 (d.h. der auf Westdeutschland entfallende Teil) der insgesamt geforderten 1,5 Mrd. $.
21. März 1952:  Beginn der Verhandlungen in Wassenaar bei Den Haag. Drei Delegationen waren vertreten: Israel, JCC, Bundesrepublik. Brisantester Punkt der Verhandlungen war die Forderung der JCC nach Wiedergutmachung auch für Geschädigte jenseits der Grenzen der Bundesrepublik: Verfolgte aus der Ostzone, aus den Reichsgebieten östlich der Oder-Neisse-Linie und aus Österreich. Es bedeutete dies eine Aufweichung des Territorialprinzips, einem Erbe der Entstehung der Entschädigungsgesetze auf Länderebene, das ja den größten Teil der Verfolgten aus dem Kreis der Entschädigungsberechtigten ausschloß. Verhandlungsergebnis: Emigranten aus dem Gebiet der DDR und Österreich sollten keine Ansprüche geltend machen können. Ebenso die Auswanderer aus dem Reichsgebiet (1937) östlich der Oder-Neisse-Linie, aus Danzig, dem Memel-, sowie dem Sudetenland. Allerdings sollten NS-Verfolgte aus den sogenannten Vertreibungsgebieten im Sinne des Lastenausgleichsgesetzes in ihren Entschädigungsansprüchen (volksdeutschen) Vertriebenen gleichgestellt werden. Somit hatten verfolgte Juden ebenso wie Vertriebene ihren Entschädigungsanspruch mit einem „Bekenntnis zum deutschen Sprach- und Kulturkreis“ zu untermauern.

Verhandlungserfolge der JCC in Sachen Individualentschädigung waren beispielsweise:

  • Erfüllung der individuellen Entschädigungsansprüche in maximal zehn Jahren und Entschädigung für einen erweiterten Personenkreis:
  • Entschädigung für einen Teil der nichtdeutschen Juden analog Vertriebenen
  • für jüd. Gemeindebedienstete
  • für Leben in der Illegalität
  • für Ausbildungsschäden
  • für sog. „Doppeltverfolgte“, d.h. NS-Verfolgte, die als politisch Verfolgte aus der SBZ/DDR kamen
  • für Staatenlose
  • Gleichstellung von Zwangsarbeit mit Freiheitsentziehung.

Ratifizierung des Vertrags 10.9.1952 in Luxemburg, Zustimmung des Bundestags 18.3.1953 bei zahlreichen Enthaltungen der Regierungskoalition. Nur die SPD-Fraktion stimmte geschlossen für den Vertrag.

Im Luxemburg-Vertrag übernahm die Bundesrepublik als Globalentschädigung die Zahlung von 3,45 Mrd. DM in Gütern innerhalb von 12 Jahren. Israel sollte daraus 450 Mio. DM an die JCC weiterleiten. Die Leistungen an Israel bildeten einen wichtigen Beitrag zur wirtschaftlichen Konsolidierung Israels. Die der JCC zugeteilten Geldmittel wurden hauptsächlich zum Wiederaufbau hunderter jüdischer Gemeinden in Europa verwandt.
1965 endeten die Zahlungen an Israel gemäß Luxemburg-Vertrag. Die Bundesrepublik und Israel einigten sich im selben Jahr auf die Aufnahme diplomatischer Beziehungen.

In der öffentlichen Meinung galt das Abkommen mit Israel/JCC als Inbegriff der Wiedergutmachung. Gegenstand des Vertrags waren – von kleinen Verbesserungen der Individualentschädigung abgesehen – jedoch Pauschalzahlungen, die in keiner direkten Beziehung zum jeweils persönlich erlittenen Schaden und dem individuellen Leid standen.

 

10. Das Bundesentschädigungsgesetz (BEG)

1953 wurde das erste bundeseinheitliche Entschädigungsgesetz beschlossen, das sogenannte Bundesergänzungsgesetz. Es legte in 113 Paragraphen fest:

  • die zu entschädigenden Personengruppen ("rassisch", religiös und politisch Verfolgte)
  • die zu berücksichtigenden Schadensbestände (Schäden an Leben, Gesundheit, Freiheit und beruflichem Fortkommen)
  • die Befriedigung der Entschädigungsansprüche
  • die zuständigen Behörden
  • Verfahrensvorschriften

1956 wurde das Bundesergänzungsgesetz durch das Bundesentschädigungsgesetz (BEG) abgelöst. Der Kreis der Entschädigungsberechtigten wurde darin erweitert um:

  • Hinterbliebene von ermordeten Verfolgten
  • irrtümlich Verfolgte
  • Personen, die verfolgt worden waren, weil sie einem Verfolgten nahestanden
  • neben einem Wohnsitz in der BRD wurde nun auch ein ehemaliger Wohnsitz in den Reichsgrenzen von 1937 anerkannt

Ins BEG wurden Sonderregelungen aufgenommen für:

  • Heimkehrer (zurückgekehrte Kriegsgefangene und Zivilinternierte)
  • Vertriebene
  • Flüchtlinge aus der SBZ
  • DPs

1965 erfolgte das BEG-Schlußgesetz:

  • Festlegung, daß nach 1969 keine Anträge auf Entschädigung mehr angenommen werden konnten.
  • Schaffung eines Härtefonds: Beihilfen für nach 1953 aus dem Ostblock ausgewanderte NS-Opfer ohne BEG-Berechtigung
  • Einbeziehung von NS-Verfolgten aus Danzig ins BEG

Problematisch blieb in der Praxis die Bewilligung von Entschädigung für Gesundheitsschäden, ein Drittel der Anträge wurde abgelehnt. Viele Gesundheitsschadensrenten mußten auf gerichtlichem Weg erstritten werden.

Ausgeschlossen von der Entschädigung nach BEG waren alle, die in der Verfolgungszeit nicht innerhalb der Reichsgrenzen gelebt hatten bzw. ihren Wohnsitz nicht in der BRD hatten. Die ganz überwiegende Zahl der NS-Verfolgten waren aber Ausländerinnen und Ausländer (95%), die fast alle nach BEG leer ausgingen.
Nach offizieller Statistik verteilten sich jedoch die Leistungen nach BEG und BRüG zu etwa 20% auf das Inland, zu etwa 40% auf Israel und im Übrigen auf das sonstige Ausland. Die Rentenleistungen nach BEG verblieben zu etwa 15% im Inland, der Rest ging ins Ausland.

Bis zum Schlußtermin 1969 waren 95% der Anträge erledigt.
Für die ausgeschlossenen Opfergruppen änderte sich durch das BEG-Schlußgesetz und in der Zeit danach wenig, z.B:

  • Kommunistische NS-Verfolgte konnten Entschädigung erhalten, sofern sie nach den Parteiverbot 1956 nicht aktiv waren, allgemein war die Praxis gegenüber Kommunisten nach 1965 etwas weniger restriktiv (Zulassung der DKP 1969).
  • der Beginn der Verfolgungszeit für Sinti und Roma wurde von 1943 auf 1938 zurückdatiert; zurückgewiesene Anträge konnten erneut gestellt werden.
  • Zwangssterilisation blieb weiter nicht entschädigungsfähig, da das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ und die Tätigkeit der „Erbgesundheitsgerichte“ nicht als rechtswidrig galt.
  • Homosexuelle konnten ihre Forderungen überhaupt erst nach der Reform des § 175 StGB 1969/73 öffentlich erheben, auch dann ohne Erfolg
  • „Asoziale“, Wehrdienstverweigerer und andere blieben aus dem BEG ausgeklammert, ebenso "Kriminelle", Sicherungsverwahrte und forensische Patienten.

Die Entschädigungsfrage galt mit dem BEG-Schlußgesetz als endgültig abgeschlossen, trotzdem wurden weiterhin Forderungen nach Nachbesserungen erhoben und teilweise auch durchgesetzt.
Die VVN wurde nach Aufhebung des Verbots 1967 wieder aktiv und legte 1973 – erfolglos – einen Entwurf für eine Novellierung des BEG vor. Wohl aus Angst vor „Weiterungen“ verzichtete man nach 1965 grundsätzlich auf weitere Novellierungen des BEG. Trotzdem waren Einzelheiten ständiger Veränderung unterworfen, so wurde z.B. die Durchführungsverordnung betreffend Schäden an Leben und Gesundheit und Berufsschäden bis Ende der 70er Jahre ca. 50 (!) mal geändert. Die Liste der als KZ geltenden Haftstätten wurde erweitert, in der Sozialversicherung wurden zusätzliche Zeiten für Haft, Krankheit, für die Zeit der Sterntragepflicht angerechnet usw. usf.
Die JCC setzte sich für die nach 1965 (BEG-Schlußgesetz) in den Westen gekommenen „Spätauswanderer“ ein, für diesen Personenkreis wurden „Härtefonds“ gebildet. 1980 erfolgte die Vergabe von von 440 Mio. DM an JCC für einmalige Beihilfen an jüdische Verfolgte, die nach 1965 in den Westen ausgewandert waren.

Die mit 1968 einsetzende intensivere und kritischere Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus galt hauptsächlich der Täterseite unter moralischen Gesichtspunkten – an Fragen der Wiedergutmachung zeigte man sich eher wenig interessiert. Sie galt für allgemein – von wenigen engagierten „Einzelkämpfern“ – abgesehen, als ein auf zufriedenstellende Weise abgeschlossenes Kapitel.

Typisch für die Zeit bis Mitte der 1980er-Jahre waren kleinere „Nachbesserungen“ zum BEG, die von der Öffentlichkeit nur am Rande vermerkt wurden.

Mitte der 80er setzte dann eine breite öffentlich-politische Debatte über die Wiedergutmachung der NS-Verbrechen ein. Der Nationalsozialismus war zwischenzeitlich zu einem zentralen Bezugspunkt der politischen Kultur der Bundesrepublik aufgerückt. Impulse zur konkreten Befassung mit den Opfern kamen aus der Geschichtsforschung, auch beispielsweise die 1986 geleistete Entschädigung der Fa. Dynamit Nobel AG an jüdische Zwangsarbeiter lenkte die Aufmerksamkeit auf Mängel der Wiedergutmachung, insbesondere auf die ausgeschlossenen Opfergruppen. Der Regierungsbericht 1986 über die Wiedergutmachung präsentierte diese ungeachtet dessen als Erfolg und räumte Mängel lediglich bei der Entschädigung von Sinti und Roma sowie bei Zwangssterilisierten ein. Folge war erneut eine „endgültige Abschlußregelung“: ein Härtefonds über 300 Mio. DM für „vergessene“ Opfergruppen wir Sinti und Roma, „Asoziale“, Homosexuelle, Zwangssterilisierte, Opfer medizinischer Versuche, Euthanasie-Opfer und Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Wenig bekannt ist, daß diese „vergessenen“ Opfer mit Ausnahme der Zwangsarbeiter unter Umständen Anspruch auf Leistungen nach dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz hatten; falls hier Fristen versäumt wurden, waren für den Regelfall Beihilfen von 5.000 DM vorgesehen.

Nach der deutschen Einigung 1990 stellte sich die Frage der Wiedergutmachung der NS-Verbrechen neu. Dies betraf einerseits die innerdeutsche Regelung der Ansprüche von NS-Opfern aus der ehemaligen DDR, andererseits weitere Leistungen auf internationaler Ebene. Die DDR hatte sich unter Berufung auf ihre politisch-moralische und staatsrechtliche Diskontinuität zum Nationalsozialismus niemals zu Wiedergutmachungsleistungen verpflichtet gesehen. Als NS-Opfer anerkannte DDR-Bürger erhielten lediglich bei verminderter Erwerbsfähigkeit Sozialhilfe und Vergünstigungen wie längeren Urlaub oder bevorzugte Wohungszuweisung. Ab 1965 wurde NS-Verfolgten in der DDR eine monatliche „Ehrenpension“ gewährt. Bei den NS-Verfolgten wurde zwischen privilegierten „Kämpfern gegen den Faschismus“ (Widerstandskämpfer und politische Häftlinge) und schlechtergestellten „Opfern des Faschismus“ (rassistisch oder religiös Verfolgte) unterschieden. Die „Ehrenpension“ betrug etwa das dreifache der DDR-üblichen Rente, „passive“ Opfer erhielten 1 400 Mark und Widerstandskämpfer 1 600 Mark.

Im Gesetz über Entschädigung für Opfer des NS im Beitrittsgebiet vom 22. April 1992 (Entschädigungsrentengesetz – ERG ) erfolgte die Neuregelung der Zahlung von Ehrenpensionen und Hinterbliebenenpensionen der frühen DDR für NS-Verfolgte durch das ERG (Entschädigungsrenten in Höhe von 1400 DM bzw. Witwen-/Witwerrenten von 800 DM monatlich).

Nach Wiedervereinigung erfolgte eine Härteregelung für bisher unberücksichtigte NS-Opfer, die wegen ihres Wohnsitzes die BEG-Antragsfristen nicht hatten einhalten können.

In einem Zusatz zum Einigungsvertrag erklärte sich die Bundesrepublik bereit, für von der DDR nicht erfüllte Ansprüche jüdischer NS-Opfer im Ausland einzustehen. Auf dieser Grundlage erhielt die JCC 1995 975 Mio. DM für Monatsrenten für bedürftige oder nur geringfügig entschädigte jüdische NS-Opfer.


11. Zur BEG-Praxis

Die BEG-Praxis war gekennzeichnet durch komplizierte Territorialitätsregelungen. Entschädigungsberechtigte mussen ihren Wohnsitz in der BRD (nach 1990 plus DDR-Gebiet) haben oder gehabt haben, oder bei Übersiedlung in die Bundesrepublik nach 1952 ihren Wohnsitz in den Reichsgrenzen von 1937 inklusive Danzig gehabt haben. War der oder die Verfolgte außerhalb des Geltungsbereichs verstorben, galt die Witwe oder der Witwer, sofern selbst von Verfolgung betroffen, als entschädigungsberechtigt.  Auch gab es Sonderregelungen für Heimkehrer, vertriebene ethnische Deutsche etc. Zahlreiche Durchführungsverordnungen flankierten das BEG mit weiteren Detailregelungen.

Bei den Schadenskategorien kommen in Frage Schäden an Leben, Körper und Gesundheit, Freiheit, Eigentum und Vermögen, beruflichem und wirtschaftlichem Fortkommen. Annähernd die Hälfte der Ansprüche bezieht sich auf Gesundheitsschäden und Berufsschäden.

  • Ein Schaden an Leben lag vor, wenn der Verfolgte ermordet oder in den Tod getrieben wurde oder im Lager oder innerhalb von acht Monaten danach gestorben war.
  • Schäden an Körper und Gesundheit: entschädigt wird nicht das Leiden bzw. die Krankheit im medizinischen Sinn, sondern lediglich die verfolgungsbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE). Ab einer MdE um 25% gab es eine Rente; die Höhe der Rente bemaß sich am Grad der MdE und den persönlichen wirtschaftlichen Verhältnissen, die offengelegt werden mußten und ein weites Feld für Rentenkürzungen und Rechtsstreitereien boten. Vertrauensärztliche Bemessung der MdE war heikel, zumal zwischen Verfolgungsereignis und medizinischer  Begutachtung oft viele Jahre lagen. Befreite Häftlinge litten 1945 fast ausnahmslos an einer Hungerdystrophie, die in der Regel nach einigen Jahren abgeklungen war. Dafür gab es 2000 bis 4000 DM. Später wurden auch psychiatrische Leiden berücksichtigt. Krankenbehandlungskosten wurden nach Prüfung übernommen.
  • Schaden an Freiheit: Freiheitsentzug durch den NS-Staat oder dessen Verbündete (ab Stichtag). Freiheitsbeschränkung durch Tragen des Judensterns oder Leben in Illegalität. Pro Tag KZ-Aufenthalt gab es DM 5.- (der Betrag wurde auch später nicht erhöht), wenn der oder die Geschädigte Ort und Zeitdauer nachweisen konnte. Außerdem bedurfte es eines Kanons der KZ und der KZ-ähnlichen Haftstätten. Für die Durchführung des BEG wurden daher vom Finanzministerium vorläufige Aufstellungen der KZ veranlaßt. In der Aufstellung von 1964 wurden die bereits von der IRO erfaßten 60 Arbeitslager nicht mehr aufgeführt, und unter der Rubrik Vernichtungslager hatte man glatt Auschwitz-Birkenau vergessen! Als Kriterium für Konzentrationslager legt das BEG die Unterstellung der Haftstätte unter den Reichsführer SS fest.
  • Eigentum und Vermögen (Sonderabgaben)
  • Ausbildungsschaden: pauschal 10 000 DM
  • Schaden im beruflichem und wirtschaftlichem Fortkommen. Als Norm gelten die Bezüge von Berufsbeamten. Der Schadenszeitraum endet, wenn der Verfolgte eine Lebensgrundlage findet, die dem Durchschnittseinkommen einer Person mit gleicher Berufsausbildung entspricht. Feststellung des Schadens und Bemessung der Entschädigung auch bei hier juristisch unübersichtlich. Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier etwa erhielt 280 000 DM für seine von den Nazis verhinderte Professur. Normalerweise erfolgte die Entschädigung in Form einer Rente. In der Sozialversicherung gilt der Verfolgungszeitraum als anzurechnende Versicherungszeit.

Die Beweislast für Schäden hatten die Antragssteller zu tragen. Die verlangten präzisen Nachweise  z.B. über Haftzeiten und -orte waren aber oft schwer zu erbringen und wurden daher manchmal fingiert (auch durch falsche Bestätigungen von Mithäftlingen), was wiederum das allgemeine Mißtrauen der Behörden gegen die Antragssteller bestärkte. Falsche Angaben konnten zum Verlust des Entschädigungsanspruchs führen. Erste Adresse für Belege war der International Tracing Service ITS in Arolsen, dessen Hauptarbeit denn auch darin bestand, beweiskräftige Bescheinigungen für Ansprüche aus der NS-Zeit bereitzustellen. Dabei gings nicht nur um KZ-Haft, sondern auch z.B. um Lastenausgleichsansprüche für DPs oder Beschäftigungsnachweise für Zwangsarbeiter für die Sozialversicherungen.

Die Leistungen nach BEG bilden den mit Abstand größten Posten im Rahmen der Wiedergutmachung. Bis 2002 wurden 43 Mrd. € ausgezahlt.
Es sind 4 384 000 Anträge nach BEG gestellt worden, davon 2 Mio. anerkannt, Rest Ablehnungen oder Rücknahmen (Antragssteller stellten oft mehrere Anträge). Die Zahl der BEG-Entschädigten liegt – nach Schätzungen, da es eine Statistik nur über die Zahl der Anträge gibt – bei ca. 1 Million Personen, davon etwa 2/3 Häftlinge, 1/3 Emigranten. Etwa 360 000 Verfolgte haben Rente nach BEG erhalten, 650 000 erhielten einmalige Leistungen in unterschiedlicher Höhe (Freiheitsschaden, Ausbildungsschaden, Eigentumsschaden).

Trotz der immensen Gesamtsumme sind die Leistungen für die einzelnen Empfänger überwiegend bescheiden. Ein Monat KZ-Haft wird z.B. mit der Zahlung von € 75.- abgegolten. Für Gesundheitsschäden werden Renten bezahlt; Lebensschadensrente ca. € 800.- monatlich, Durchschnittsrente nach BEG ca. € 531.- monatlich.

Die Entschädigung ist inzwischen abgeschlossen, die Ämter haben ihr Personal bis auf einen kleinen Rest abgebaut, der mit der Überwachung der Renten und Behandlungskosten beschäftigt ist.

 

13. Die Globalabkommen

Angesichts des Ausschlusses Nichtdeutscher aus der Entschädigung nach BEG traten einige (westeuropäische) Staaten mit Wiedergutmachungsforderungen an die Bundesrepublik heran. 1958 erklärte die Bundesrepublik sich zu Einzelverhandlungen bereit, unter dem Vorbehalt, daß es sich bei etwaigen Zahlungen um freiwillige Leistungen und nicht um völkerrechtliche Verpflichtungen handle. In Globalabkommen von 1959 bis 1964 für „Personenschäden durch NS-Verfolgung“ mit zwölf Staaten verpflichtete sich die Bundesrepublik zur Zahlung von insgesamt 1 Mrd. DM. Größter Zahlungsempfänger war Frankreich mit 400 Mio. DM, gefolgt von Großbritannien mit 235 Mio. und Niederlande mit 125 Mio. Die weiteren Empfängerstaaten waren Belgien, Luxemburg, Norwegen, Dänemark, Italien, Schweiz, Österreich und Schweden.
Die Globalabkommen galten als abschließende Regelung der Entschädigung der im BEG nicht berücksichtigten NS-Opfer.
Nach den Globalabkommen mit den westeuropäischen Ländern wurde 1972/74 noch ein Sonderabkommen mit Jugoslawien geschlossen: günstige BRD-Kredite gegen den jugoslawischen Verzicht auf sämtliche Forderungen nach Wiedergutmachung.
Die Forderungen Polens wurden mit Verweis auf den polnischen Reparationsverzicht und das Londoner Schuldenabkommen zurückgewiesen. Allerdings beharrte Polen auf der Unterscheidung von (erledigten) Reparationen und (offenen) Individualansprüchen polnischer Staatsbürger. 1975 erhielt Polen einen günstigen BRD-Kredit und 1,3 Mrd. DM zur Abgeltung von Rentenansprüchen, womit man in Bonn die Sache als erledigt betrachtete.

 

13. Globalabkommen 1991 bis 1994

Nach dem Anschluß der DDR an die Bundesrepublik wurden an Stiftungen in Polen, Rußland, Ukraine und Weißrußland Mittel in Höhe von insgesamt 1,5 Mrd. für Einmalleistungen gewährt:

  • 1991 Stiftung „Deutsch-Polnische Aussöhnung“ Warschau 500 Mio. DM (hinzu kamen erhebliche Kredite an Polen)
  • 1993 Belarus Stiftung „Verständigung und Aussöhnung“ Minsk 200 Mio. DM
  • 1993 Russische Föderation 400 Mio. DM
  • 1993 Ukraine 400 Mio. DM
  • 1997 „Deutsch-Tschechischer Zukunftsfonds“: 140 Mio. DM für Projekte zugunsten von NS-Verfolgten

 

14. Entschädigung für Zwangsarbeit

Anläßlich der Ostwiedergutmachung wurde die schwelende Frage der materiellen Entschädigung der Arbeitsleistung von Zwangsarbeitern wieder virulent. Polnische Organisationen wandten sich mit Forderungen an Deutschland, Österreich und an einzelne Firmen. Nachdruck erhielten diese Forderungen, als ehemalige Zwangsarbeiter bei US-Gerichten Sammelklagen einbrachten und ihnen Millionenbeträge als Entschädigung zugesprochen wurden. Unter dem Eindruck weiterer Klagedrohungen fanden sich einzelne Firmen – z.B. VW 1998 – zu Zahlungen bereit, was den Druck auf die anderen Firmen erhöhte. Als Gegenleistung für den Schutz vor weiteren Sammelklagen erklärten sich betroffene Unternehmen zu freiwilligen Zahlungen bereit. 1999 schlossen sie sich zur Stiftungsinitiative „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ zusammen. Ende 1999 kam eine Einigung zwischen der Deutschland bzw. den deutschen Firmen, den USA, Ukraine, Tschechien, Polen, Rußland, Weißrußland sowie den Anwälten bzw. den involvierten Organisationen zustande. Der Entschädigungsfonds wurde mit 10 Mrd. DM dotiert, je zur Hälfte zu bezahlen vom deutschen Staat und den Unternehmen.


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Roland Maier, Stuttgart
2004 (provisorisch überarbeitet Oktober 2023)
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