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Karl Renius (1890 - 1944)

"Ein vom Schicksal Verkürzter"

10.01.1936 Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung
23.03.1944 KZ Mauthausen
03.05.1944 Tod im KZ Ebensee


Karl Renius wurde am 9. November 1890 in Mannheim-Neckarau geboren und katholisch getauft. Die Familienverhältnisse waren nicht eben günstig. Auf zwölf beidseitig engbeschriebenen Seiten stellte Renius 1929 im Zuchthaus Ludwigsburg seine frühen Lebensumstände dar. Danach war sein 1910 gestorbener Vater Fabrikarbeiter, der wiederholt wegen Einbruchdiebstahls, Hehlerei und Sittlichkeitsverbrechen bestraft wurde. Nach der Verurteilung des Mannes zu einer Zuchthausstrafe wurde die Ehe auf Antrag der Frau geschieden. Seine Mutter charakterisierte Karl Renius als unbeherrscht und zu Tätlichkeiten neigend, "durch geistige, seelische und materielle Not verbittert". Sie hatte bereits zwei uneheliche Kinder mit in die Ehe gebracht. Karl Renius und seine Geschwister seien "verwahrlost wie herrenlose Hunde aufgewachsen", zunächst jahrelang im Kinder- und Jugendheim St. Kilian in Walldürn. Mit 15 Jahren wären sie "auf die Landstraße", da ein Zusammenleben mit der "halb irrsinnig gewordenen, ewig schimpfenden Mutter" nicht mehr möglich gewesen sei.

Am 20. Juli 1908 wurde vom Amtsgericht Mannheim die Unterbringung in der Badischen  Landesanstalt Schloss Flehingen (Zwangserziehungsanstalt für "jugend­liche Verwahrloste männlichen Geschlechts") nach Ende einer zweimonatigen Gefängnisstrafe angeordnet, da er schon zweimal wegen Diebstahls verurteilt wurde.

Am 21. November 1909 trat Renius eine von der Anstalt vermittelte Stelle als Bäckerlehrling bei einem Bäckermeister in Karlsruhe an, bei dem er auch wohnte. In den Akten findet sich die Notiz, dass er in der Nacht vom 7. auf den 8. Dezember 1909 dort "entlaufen" sei. Eine weitere Notiz der Polizeidirektion Mannheim besagt, dass sein Aufenthalt auch einen Monat später noch nicht ermittelt werden konnte. Am 24. September 1912 forderte das Landgericht Mannheim in Flehingen die Akten von Renius an. Er saß inzwischen wegen des Tatvorwurfs des Raubes in Untersuchungshaft. Am 7. Februar 1914 verlangte die Staatsanwaltschaft Mannheim ebenfalls die Akten, da Renius wegen Totschlagversuchs in drei Fällen angeklagt war. Vom Schwurgericht Mannheim wurde er deswegen am 3. April 1914 zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt. Eine weitere Verurteilung zu 1 1/2 Jahren Zuchthaus wegen Hehlerei und Diebstahls erfolgte im November 1919.

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Renius, Karl, ED-Foto
Karl Renius. Erkennungsdienstliches Foto,
Staatsarchiv Ludwigsburg E 356 d VI Bü 693

Anfang 1929 brach Renius mehrmals Güterwaggons auf dem Güterbahnhof Kornwestheim auf und entwendete daraus Waren. Das Schöffengericht Stuttgart verurteilte ihn im März 1929 daraufhin wegen Diebstahls im Rückfall zu 2 Jahren 8 Monaten Zuchthaus, die er in der Strafanstalt Ludwigsburg verbüßen sollte. Am 6. Dezember 1929 wurde er in die dem Zuchthaus angegliederte "Irrenabteilung" auf dem Hohenasperg verlegt, wo er bis Strafende blieb.
Nach Berichten der dort tätigen Ärzte und des Wachpersonals geriet Renius immer wieder in starke Erregungszustände, verweigerte Essen und Trinken sowie Gespräche mit den Ärzten, schrieb stattdessen mit "feiner, kleiner Schrift ein ganzes Heft voll". Anfang 1930 lehnte er fünf Wochen lang jegliche Körperreinigung und Wäschewechsel ab. Er wurde schließlich mit Gewalt gebadet und wehrte sich dabei so heftig, dass auch die beiden Wächter "patschnass" wurden. Anschließend zerriss er seine frische Wäsche.
Renius versandte zahlreiche Eingaben und Beschwerden gegen seine Behandlung. In einem  Schreiben an den Rechtspflegeausschusss des württembergischen Landtags vom August 1930 bat er um Schutz gegen die physische und geistige Folter, der er seiner Ansicht nach ausgesetzt war.

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Renius, Karl, Bienen u. Ameisen
Staatsarchiv Ludwigsburg E 356 d VI Bü 693

Das Abschlussgutachten des Zuchthauses hob seine "gute intellektuelle Begabung" hervor und betonte, dass sich bei ihm auch "Gemütswerte beachtlicher Art" finden ließen. Der Rest fiel allerdings weniger günstig aus:
"Renius wird aber vollkommen beherrscht von einem leidenschaftlichen alles Maß und Ziel übersteigenden Hass gegen die bestehende Wirtschaftsordnung, an der er überhaupt nichts Gutes lässt und die mit Stumpf und Stil ausgerottet gehöre. [...] Er spricht nur von 'wir Proletarier' und den 'Bourgeois', die an allem Elend schuld seien.
Auf dem Asperg habe er alles zerrissen und die Wände mit Kot beschmiert, weil ihm der Staiger [vermutlich ein Wachmann] jegliche Rechte, auf die er als Staatsbürger Anspruch habe, entzogen habe. Die Vorstände der Anstalten müssten auch dran glauben, wenn die kommunistische Herrschaft da sei, und etwa 2 Millionen der Bourgeois würden dann schon an die Wand gestellt werden müssen. Die Äußerungen sind umso bezeichnender, als die Heilanstalt bald feststellen konnte, dass nur eine Haftpsychose, nicht eine wirkliche Geisteskrankheit vorlag. So enthüllen sie die innerste Gedankenwelt des Renius. Auch heute noch ist er Kommunist und macht daraus gar kein Hehl. Seine kommunistische Ansicht gründet sich auf ein aus Not und Neid in ihm entstandenes Gefühl innerer Auflehnung; es ist die Gefühlseinstellung eines vom Schicksal Verkürzten. In der Tat ist er durch sein Erbgut und familiäre Umwelt im Leben schlecht weggekommen. Das wird bei ihm aber nicht zu einem Ansporn, dennoch ehrlich durchzukommen, sondern führt ihn zu einer Ignorierung seiner persönlichen Verantwortung. [...] Seine wohl vorwiegend anlagemäßig bedingte Kriminalität ist so eng mit seinen unvermindert gebliebenen kommunistischen Anschauungen verflochten, dass eine Änderung seiner Einstellung zum deutschen Volke und seinen Pflichten als Deutscher auch in Beziehung auf die Wiederholung seiner Straftaten nicht erwartet werden kann."

Nach Ende der Strafhaft wurde Karl Renius nicht entlassen, sondern am 13. September 1931 als "gemeingefährlich geisteskrank" in die Heilanstalt Weinsberg überführt. Am 25. Oktober 1931 entwich er dort. Einen Tag später teilte die Anstalt den Polizeibehörden mit, dass Renius "nicht mehr geisteskrank und anstaltsbedürftig sei. Genesen entlassen."

Ende Dezember 1931 wurde er erneut verhaftet. Renius wohnte mittlerweile bei seiner Braut Maria S. und deren Sohn in der Hackstraße 129 in Stuttgart Ost. Beim Prozess waren auch seine wegen Hehlerei vorbestrafte Braut, ihr Sohn Anton sowie ein Freund, der ebenfalls dort wohnte, angeklagt. Am 11. März 1932 verurteilte ihn das Schöffengericht Stuttgart wegen schweren Diebstahls im Rückfall zu vier Jahren Zuchthaus abzüglich zwei Monaten Untersuchungshaft (wie mit den Mitangeklagten verfahren wurde, geht aus den Akten nicht hervor).

Im Zuchthaus erhielt Renius mehrere Arreststrafen wegen Tobens und Schimpfens, strafverschärfend wurde ihm sein dabei benutztes revolutionäres Vokabular angekreidet.

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Renius, Karl, Anhalteverfügung
Postanhalteverfügung, StAL E 356 d VI Bü 693

Als das Ende der Strafzeit näher rückte, sollte das Zuchthaus Ludwigsburg eine Expertise in Bezug auf eine Freilassung unter Polizeiaufsicht erstellen. Diese wurde mit Datum 31. Oktober 1935 abgegeben:
"Nicht kontrollierbar. Renius will nicht ehrlich arbeiten. Ungünstiges Erbgut. Aufgewachsen unter ungünstigen Familienverhältnissen. R. ist überzeugter Kommunist und erwartet eine Änderung seiner Lage von dem Sieg des Kommunismus. Wiederholt vorbestraft ist er nach seiner letzten Entlassung rasch rückfällig geworden u. hat sich als gewerbsmäßiger Dieb betätigt. Charakter über dem Durchschnitt, wissenschaftliche Interessen, nicht ohne Gefühlswerte, zäher Wille, fanatischer Kommunist, Verbrecher aus Ressentiment. Neigung zu schweren Affektkrisen. Antisoziale Einstellung.
Nach Vorleben und Charakter bleibt Renius gefährlich.
Ein Sicherungsverfahren ist eingeleitet. Kommt er frei, dann ist Schutzhaft zu erwägen. Polizeiaufsicht dürfte bei ihm, falls er frei ist, zwecklos sein, da es ihm leicht wäre, sich ihr zu entziehen."

Am 10. Januar 1936 verhängte das Gericht nachträglich die Sicherungsverwahrung und Karl Renius wurde in den Maßregelvollzug in die Sicherungsanstalt Straubing überstellt. Vermutlich 1940, spätestens 1941verlegte man ihn in die Sicherungsanstalt Schwäbisch Hall.

Im September 1942 vereinbarte Reichsjustizminister Otto Georg Thierack mit dem Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei Heinrich Himmler die schubweise Auslieferung aller Sicherungsverwahrten, die bisher der Justiz unterstanden und in den Sicherungsanstalten einsaßen, an die Polizei (nur Gestapo oder Kripo konnten, über Antrag beim Reichsicherheitshauptamt, KZ-Einweisungen vornehmen). In den Konzentrationslagern sollten sie - wie es explizit hieß - der „Vernichtung durch Arbeit“ preisgegeben werden. Die allermeisten Betroffenen wurden im Verlauf des Frühjahrs 1943 in das KZ Mauthausen deportiert. Karl Renius dagegen traf erst am 23. März 1944 dort ein. Er kam mit einem Transport, der überwiegend aus forensischen Patienten bestand, die Kriminalpolizisten aus verschiedenen psychiatrischen Anstalten in Württemberg abgeholt und ins Landesgefängnis Schwäbisch Hall zum Weitertransport in das KZ Mauthausen gebracht hatten. Er erhielt im Lager die Häftlingsnummer 59317 und die Kategorie "SV" (Sicherungsverwahrter).

Bald nach seiner Einlieferung wurde er ins Mauthausen-Außenlager KZ Ebensee  weiterverlegt, wo die Häftlinge hauptsächlich beim Stollenbau für unterirdische Anlagen für die Raketenentwicklung, Kugellagerproduktion und Treibstofferzeugung eingesetzt wurden. Am 3. Mai 1944 starb Karl Renius im dortigen Krankenrevier im Alter von 53 Jahren.

Die Markierung auf der Übersichtskarte zeigt die letzte Wohnadresse Karl Renius', Hackstraße 129 in Stuttgart-Ost, an.


Quellen

ITS Digital Archive, Arolsen Archives
1.1.26.3 Individuelle Häftlingsunterlagen Männer KL Mauthausen, Karl Renius
Dok. 0.1 / 33740279 (Hinweis auf ein Verzeichnis des Reichskriminalpolizeiamts Berlin über Todesfälle von erkennungsdienstlich behandelten Personen, sogen. "Berliner Listen")

Staatsarchiv Ludwigsburg
E 356 d III Bü 1328, E 356 d VI Bü 693

Generallandesarchiv Karlsruhe
484-1 Nr. 1916

Memorial Mauthausen
(https://raumdernamen.mauthausen-memorial.org/)

Archiv Memorial Mauthausen
Zugangsliste Mauthausen vom 23. März 1944
Datenbankauszug vom 27.4.2023


© Text und Recherche:
Sigrid Brüggemann, Stuttgart
Stand: Juni 2024
www.kz-mauthausen-bw.de