Karl Reyer (1883 - 1945)
"Seelische Labilität"
03.01.1936 Anordnung der Sicherungsverwahrung
vermutlich Dezember 1942 KZ Mauthausen
22.03.1945 Tod im KZ-Außenlager Steyr
Karl Reyer wurde am 26. April 1883 in Zell unter Aichelberg (im heutigen Landkreis Göppingen) als viertes von acht Kindern des Landwirts Friedrich Reyer und seiner Ehefrau Rosine, geb. Greiner, geboren und evangelisch getauft.
Er besuchte die Volksschule und war danach ein Jahr bei einem Holzdrechsler in der Lehre. Anschließend besuchte er die Handelsschule in Kirchheim u. Teck und fand nach dem Abschluss seiner Ausbildung aufeinanderfolgend bei mehreren Firmen eine Anstellung als Kaufmann. Am 11. Oktober 1907 heiratete er Irene Dechert und begann ab diesem Zeitpunkt zusammen mit seinem Schwiegervater in Offenbach/Main ein Holzgeschäft, das er bis 1914 betrieb. Aus der Ehe gingen ein Sohn und eine Tochter hervor.
Wenige Tage nach Beginn des Ersten Weltkriegs wurde Karl Reyer am 1. August 1914 als Ersatzreservist eingezogen. Im Dezember ging es für ihn an die Front. Dort erlitt er im Februar 1915 eine Verwundung, in deren Folge sein rechtes Auge erblindete. Bis 1918 folgten mehrere Lazarettaufenthalte wegen nervöser Beschwerden. Im Mai 1918 wurde er aus dem Militärdienst entlassen.
Er kehrte zurück nach Offenbach und betätigte sich als Händler mit verschiedenen Waren wie Holz, Zigarren und Damenhandtaschen. 1924 eröffnete er in Stuttgart eine "Fabrikation" von Herrenhemden, die sich zunächst vielversprechend anließ. Jedoch schon im folgenden Jahr ging er wegen "zweifelhafter Wechselgeschäfte" bankrott.
Am 2. März 1926 wurde Karl Reyer wegen Geistesschwäche entmündigt. Der ärztliche Direktor des Bürgerhospitals Stuttgart, Prof. Dr. Wetzel, beschrieb ihn als einen Typus "aus dem Bereich der Psychopathie mit hysterischen Zügen, charakterisiert durch besondere seelische Labilität, abnorme Haltlosigkeit, Willensschwäche und Beeinflußbarkeit".
In der Folgzeit vagabundierte er unter anderem auf der Schwäbischen Alb, im Schwarzwald, in der Koblenzer Gegend und im Neckarraum. Er verrichtete ab und an Gelegenheitsarbeiten, lebte aber hauptsächlich von Fahrraddiebstählen. Seine Frau war 1935 gestorben und seine erwachsenen Kinder hatten den Kontakt zu ihrem Vater abgebrochen.
Insgesamt brachte es Karl Reyer auf 16 Vorstrafen wegen Diebstahls, Betruges, Bettelei, Unterschlagung, Körperverletzung (in einem Fall), Verstoßes gegen die Meldepflicht und groben Unfugs. Für diese Taten erhielt er meist kleine Gefängnis- oder Geldstrafen, aber auch drei längere Haftstrafen. Die erste längere Haftstrafe wurde im Jahr 1921 verhängt und lautete auf 2 Jahre 3 Monate Gefängnis. Er musste diese Strafe aber wegen "unheilbarer Geisteskrankheit und dauerhafter Haftunfähigkeit" nur teilweise verbüßen. Als zweite längere Haftstrafe erhielt er am 18. Januar 1933 neun Monate Gefängnis wegen Diebstahls in 3 Fällen. Diese Strafe musste er vollständig absitzen. Das letzte Urteil wurde im Januar 1936 gefällt. Wegen "Diebstahls im Rückfall" verhängte
das Landgericht Heilbronn eine anderthalbjährige Zuchthausstrafe. Diesmal stellte das Gericht fest, dass es sich bei Karl Reyer um einen "gefährlichen Gewohnheitsverbrecher" nach § 42e Reichsstrafgesetzbuch (der Voraussetzung, dass ein Gericht Sicherungsverwahrung anordnen konnte) handele und ordnete die Sicherungsverwahrung nach Verbüßung der Zuchthausstrafe an.
Von den Gefängnisleitern und -gutachtern wurde Karl Reyer generell eine "gute Führung" attestiert: "ein stiller, verständiger Mensch, der fleißig arbeitete, sowohl gegen Beamte als [auch] Mitgefangene sich anständig benahm". Im Abschlussgutachten des Zuchthauses Ludwigsburg von 1937 hielt man ihn nur für bedingt schuldfähig: "... mit kindlicher Naivität eignet er sich fremdes Eigentum an, ohne das volle Empfinden für das Unrecht seiner Handlungen zu haben"; als Kaufmann zeige er "nur geringe Arbeitsqualität, da er flüchtig und sorglos ist"; er verwechsele "Schein und Sein, macht sich manchmal selbst etwas vor"; er sei "sehr abhängig von seinen Stimmungen"; seine "Ideen gleiten leicht ins Uferlose, Utopische"; insgesamt sei er "unglücklich, verführbar, weich". Verwahrung im Interesse der Allgemeinheit sei dennoch geboten, solange es niemand gäbe, der sich seiner in Freiheit annähme: "Reyer hat stützende Hände und Herzen nötig, um mit den Realitäten des Lebens fertig zu werden".
Nach Ende der Strafhaft am 2. Juli 1937 kam er in die bayrische Sicherungsanstalt Straubing (bei einer Sicherungsanstalt handelt es sich um eine Abteilung im Gefängnis, in die die Sicherungsverwahrten nach Strafverbüßung in den Maßregelvollzug überführt wurden).
Im September 1942 vereinbarte Reichsjustizminister Otto Georg Thierack mit dem Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei Heinrich Himmler die schubweise Auslieferung aller Sicherungsverwahrten, die bisher der Justiz unterstanden und in den Sicherungsanstalten einsaßen, an die Polizei. In den KZ sollten sie - wie es explizit hieß - der „Vernichtung durch Arbeit“ preisgegeben werden. Auch Karl Reyer fiel unter diese Vereinbarung. Die Häftlingsnummer 19156, die er im Konzentrationslager Mauthausen erhielt, legt nahe, dass er dort mit einem Transport im Dezember 1942 eingetroffen war. Später wurde er in das Außenlager Steyr-Münichholz verlegt. Dies war eines der ersten Außenlager des Lagerkomplexes Mauthausen, in dem die Häftlinge im Stollenbau und untertage in der Kugellager- und Flugmotorenfabrikation für die deutsche Rüstungsindustrie, namentlich Steyr Daimler Puch AG, eingesetzt wurden. Da auf Karl Reyers Häftlingspersonalkarte als Beruf (in der Regel als was die Häftlinge eingesetzt wurden) "Dreher" genannt ist, musste er vermutlich in der Produktion arbeiten.
Dort starb er am 22. März 1945 im Alter von nicht ganz 62 Jahren. Im Totenbuch des KZ Mauthausen, in dem in der Regel fiktive Todesursachen eingetragen wurden, wird als Todesursache Lungenentzündung genannt.
Die Markierung auf der Übersichtskarte zeigt Karl Reyers Geburtsort Zell unter Aichelberg allgemein.
Quellen
ITS Digital Archive, Arolsen Archives
1.1.26.3 Individuelle Häftlingsunterlagen Männer KL Mauthausen, Karl Reyer
Korrespondenzakte, Karl Reyer, TD 853711
Memorial Mauthausen
(https://raumdernamen.mauthausen-memorial.org/)
Staatsarchiv Ludwigsburg E 356 d V Bü 971
© Text und Recherche:
Sigrid Brüggemann, Stuttgart
Stand: August 2023
www.kz-mauthausen-bw.de