Willy Freymüller
(geb. 1911)
Von der Firma Robert Bosch der Gestapo ausgeliefert
27.05.1940 Verhaftung
03.08.1940 KZ Dachau
11.03.1941 KZ Gusen
21.11.1941 KZ Mauthausen
10.01.1944 KZ-Außenlager Großraming
29.08.1944 KZ Mauthausen
01.09.1944 KZ Gusen II („Bergkristall“, „Georgenmühle“)
05.05.1945 Befreiung
Willy Freymüller wurde am 5. März 1911 in Mannheim geboren. Die Eltern Ludwig und Emma Freymüller wohnten in Mosbach im heutigen Neckar-Odenwald Kreis.
Der gelernte Schreiner Willy Freymüller arbeitete in Mosbach als Bauarbeiter bei verschiedenen Betrieben sowie bei einem Abbruchunternehmen. 1939 kam er nach Stuttgart und war auch hier unter anderem bei einem Baugeschäft tätig. Mit Unterstützung durch seinen Schwager fand er nach mehreren Vorsprachen schließlich am 5. September 1939, also unmittelbar nach Kriegsbeginn, eine Anstellung bei der Firma Robert Bosch. Zunächst wurde er im Lichtwerk in Stuttgart-Feuerbach eingesetzt, sodann im Ölerwerk. Da er wiederholt Ausschuss-Stücke produzierte, wurde er von seinem Meister ermahnt und es kam in der Folge zu weitergehenden Differenzen, welche Freymüller dazu veranlassten, mehrfach der Arbeit fern zu bleiben.
Aus Sicht der Betriebsleitung war Freymüller damit ein Arbeitsverweigerer und ein Fall für die Gestapo. Die damalige Meldung der Firma Robert Bosch lautete wie folgt:
"An die
Geheime Staatspolizei
Staatspolizeileitstelle Stuttgart
OW/KWL/ Su/Dr. Stgt-Feuerbach, 27.5.1940
Unser Gefolgschaftsangehöriger Willy Freymüller, geb. 5.3.11 in Mannheim, wohnhaft in Stuttgart-O, Hackstr. 12, ist seit 5. September 1939 als Maschinenarbeiter bei uns beschäftigt.
Er fehlte am 24.10.39 1 Tag entschuldigt
25.10.39 1 Tag unentschuldigt
vom 3.11.-28.11.39 22 Tage angeblich wegen Krankheit
am 12.2.40 1 Tag angeblich wegen Krankheit
am 27.2.40 1 Tag angeblich wegen Krankheit
am 16.3.40 1 Tag unentschuldigt
vom 20.3-8.4.40 16 Tage Betriebsunfall (Quetschwunde am r. Mittelfinger)
vom 1.5.-11.5.40 10 Tage Folgen des Betriebsunfalls (wurde am 10.5. durch den Vertrauensarzt der Ortskrankenkasse gesundgeschrieben)
vom 16.5.40-18.5.40 3 Tage unentschuldigt
vom 21.5.40-25.5.40 5 Tage unentschuldigt
zusammen 61 Tage
Bei der Ortskrankenkasse war F. nur während der Zeit vom 19.3.-7.4.40 und vom 6.5.-10.5.40 krankgemeldet.
Wir haben Freymüller heute durch unseren Werksicherheitsbeamten holen lassen. Er gab an, bei Frau Dr. Bötzel, Stuttgart, in Behandlung zu sein.
Auf unsere tel. Anfrage teilte uns Frau Dr. Bötzel mit, dass F. am Donnerstag, den 23.5. wegen Magenbeschwerden zu ihr in die Sprechstunde gekommen sei. Sie habe ihn zur Durchleuchtung ins Katharinenhospital geschickt. Dort war er am Freitag. Es konnte aber nichts gefunden werden. Frau Dr. Bötzel wird ihn daher sofort gesundschreiben.
Wir stellen den Antrag auf Bestrafung dieses arbeitsunwilligen Gefolgschaftsangehörigen.
Zu ihrer Orientierung teilen wir Ihnen mit, daß Freymüller der Schwager des Bruders von Helmut Schneider ist, bei dem sich Letzterer während seiner Fehlzeit öfters aufhielt.
Heil Hitler
gez. Schumacher“
Die Staatspolizei kannte keine Gnade. Sie „holte“ Freymüller am 5. Juni 1940 ab. Am 3. August 1940 wurde er durch die Stapoleitstelle Stuttgart aus der Polizeihaft wegen Arbeitsverweigerung in das Konzentrationslager Dachau eingeliefert. Eine KZ-Einweisung wegen dieses Vergehens stellte für einen Arbeiter – sofern er die deutsche Staatsangehörigkeit besaß – eine ungewöhnlich drakonische Maßnahme dar, die abschreckend wirken und innerbetrieblich ein Klima der Einschüchterung schaffen sollte. Dabei wären reguläre arbeitsrechtliche Schritte durchaus möglich gewesen, wie die Firma in einem warnenden Aushang vom 26. März 1940 selbst kund tat: ein Ölerwerk-Kollege des Willy Freymüller wurde, ebenfalls wegen Fehlzeiten, vom Landgericht Stuttgart wegen Arbeitsvertragsbruch zu vier Monaten Gefängnis verurteilt. Offenbar erschien der Betriebsleitung eine solche Bestrafung als zu milde.
Die Firma Robert Bosch pflegte in der Nachkriegszeit das Image eines widerständigen Unternehmens. Immerhin konnte man darauf verweisen, dass die Betriebsleitung mit der NS-Wirtschaftspolitik nicht konform gegangen war, dass man aus humanitären Gründen jüdische Verfolgte unterstützt hatte und dass man mit einigen Fäden mit dem Widerstandsnetz des 20. Juli verknüpft gewesen war. Wie jedoch der Fall Freymüller beweist, hegte man bei Bosch durchaus keine Skrupel, einen Mitarbeiter, mit dessen Arbeitsleistung man unzufrieden war, dem Gestapo-Terror auszuliefern. Und dies weder auf äußeren Druck noch aus Opportunitätsgründen (die bekannten Vorbehalte einiger Naziführer gegenüber der Firma ließen sich dadurch, dass man einen unbedeutenden Mitarbeiter bei der Gestapo denunzierte, wohl kaum zerstreuen), sondern aus freien Stücken um die eigene Belegschaft gefügig zu machen. Angesichts eines leergefegten Arbeitsmarkts hatte das Druckmittel der Arbeitsvertragskündigung seine Wirkung weitgehend verloren. Aus der Warte der Firmenleitung scheint es sich in diesem Fall um einen Akt der „Generalprävention“ gehandelt zu haben. Die Inhaftierung durch die Gestapo und Einweisung ins Konzentrationslager bedeutete für die Firma keinen direkten wirtschaftlichen Vorteil, sondern hatte vielmehr den Nachteil, dass der säumige Mitarbeiter nun vollends und auf unbestimmbare Zeit hinaus ausfiel. Viele andere Unternehmen vermieden es aus diesem Grund, Betriebsangehörige wegen Fehlzeiten und anderen Säumnissen der Gestapo zu melden. Um diese Hemmschwelle für die Firmen herabzusetzen, bot die Gestapo denn auch ab Sommer 1941 das Instrument einer sogenannten „Arbeitserziehungshaft“ an. Diese wurde in gestapoeigenen Lagern vollzogen und war zeitlich auf acht Wochen begrenzt. Im Fall Freymüller stand dieses polizeiliche Disziplinierungsinstrument allerdings noch nicht zur Verfügung.
Im Konzentrationslager Dachau erhielt Freymüller die Häftlingsnummer 14115 und die Haftkategorie „Schutz“. Er wurde dem Häftlingsblock 6/3 zugewiesen. Nach über einem halben Jahr wurde er für Steinbrucharbeiten bestimmt und kam mit einem Transport von 150 deutschen „Steinmetzlehrlingen“ am 11. März 1941 in das KZ Mauthausen-Gusen (Häftlingsnummer 11030). Hier musste er für das SS-Unternehmen „Deutsche Erd- und Steinwerke GmbH“ (DESt) Zwangsarbeit leisten und war Misshandlungen seitens der Lager-SS ausgesetzt. So bezog er 25 Stockhiebe, deren Spuren noch lange nach der Befreiung am Körper sichtbar waren. Es folgten mehrere Verlegungen innerhalb des Mauthausenkomplexes. Im November kam er ins Mauthausen-Hauptlager (Häftlingsnummer 1565). Im Januar 1944 folgte die Verlegung in das etwa 30 Kilometer südöstlich der Stadt Steyr gelegene Außenlager Großraming, das dem Bau eines Wasserkraftwerks an der Enns diente. Da die Bauarbeiten dort im September 1944 eingestellt wurden, kam Freymüller mit den verblieben Häftlingen am 29. August zurück ins Hauptlager Mauthausen, von wo er sogleich weiter nach Gusen verlegt wurde und wieder als „Steinmetz“ arbeiten musste; allerdings nur einige Tage, denn mittlerweile hatten kriegswirtschaftliche Erfordernisse Priorität. So kam er zum Einsatz beim Gusen-Produktionskomplex „Bergkristall“, einem unterirdischen Werk zur Großserienproduktion von Jagdflugzeugen. Als letzter Arbeitsort ist in Freymüllers KZ-Personalkarte vermerkt: Gusen-Georgenmühle. „Georgenmühle“ war, weil bei dem Ort St. Georgen an der Gusen gelegen, die interne Bezeichnung für das Kommando Rüstung Steyr-Daimler-Puch AG. Nach dem „Zusammenbruch“ konnte Freymüller nach seinen eigenen Worten am 5. Mai 1945 „weglaufen“. Er verfügte daher über keine Entlassungspapiere und Haftnachweise.
Bei seiner Rückkehr nach Stuttgart galt Freymüller als politisch Verfolgter. Die Stuttgarter „KZ-Prüfstelle“ – angesiedelt in der ehemaligen Gestapo-Zentrale „Hotel Silber“ – teilte der in der Stuttgarter Mörikestraße 24 ansässigen Rückführungsstelle ehemaliger politischer Häftlinge mit, dass Freymüller als politischer Häftling zu führen sei. Auch sei er „als politisch Aktiver“ bei der Wohnungszuweisung zu berücksichtigen. Freymüller erhielt im Nelkenweg 8 in Stuttgart-Ost eine Wohnung; seit September 1945 war er bei der Stuttgarter Straßenbahn als Schaffner tätig. 1946 erhielt er in Dachau den Ausweis für politisch Verfolgte. Noch am 2. Januar 1947 wurde Freymüller von der zuständigen Stuttgarter Kriminalabteilung D 11 als politisch Verfolgter der Kategorie „1 b“ eingestuft. Ein Ermittlungsbericht dieser Abteilung vom 21. Mai 1948 kam allerdings zu einem völlig anderen Resultat. Ein Zeuge habe erklärt, dass Freymüller nicht aus politischen Gründen, sondern wegen Arbeitsverweigerung inhaftiert worden sei. Zwar bestätigten seine ehemaligen Mithäftlinge Wilhelm Baust und Wilhelm Pflederer, dass Freymüller in den Lagern das Abzeichen der "Politischen", den „roten Winkel“, getragen hatte. Dennoch hielt man es nun für einwandfrei erwiesen, dass die seinerzeitige Verhaftung - immerhin durch die Gestapo, die nationalsozialistische politische Polizei - nicht aus politischen Motiven erfolgt sei. Freymüller, so hieß es, würde allgemein als ein unpolitischer Mensch bezeichnet, dem eine Stellungnahme gegen den Nationalsozialismus „nicht zugetraut“ würde.
Danach rang Freymüller lange Zeit um seine Anerkennung als politisch Verfolgter. Denn, so sein kaum von der Hand zu weisendes Argument, seine fast fünfjährige KZ-Haft stehe in keinem Verhältnis zu seinem mehrfachen Nichterscheinen am Arbeitsplatz bei der Firma. Schließlich hatte es sich ja, bei näherer Betrachtung, um nicht einmal zehn Tage unentschuldigten Fehlens gehandelt. In der Nachkriegszeit zeigte sich der NS-Verfolgte zunehmend verbittert, wie dies in seiner mit Vorwürfen gespickten Beantwortung eines Schreibens an den Präsidenten der Lagergemeinschaft Mauthausen in der Bundesrepublik, Otto Wahl, vom 25. Mai 1957 zum Ausdruck kam: „Man hat für mich seit 1946 bis heute noch nichts getan. Für meine langjährige K.Z.-Haft hat man mich in allen Fragen und jeglichen Unterstützungen ausgeschaltet, und auf die Seite geschoben“ (Faksimile des Briefs mit Transkription siehe unten).
1962 wandte Freymüller sich in seiner Entschädigungssache an das Bundespresseamt, das ihn an den Zentralverband demokratischer Widerstandskämpfer und Verfolgtenorganisationen, einen Dachverband dezidiert antikommunistischer Prägung verwies. Doch auch von dieser Seite kam keine Hilfe. Von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) Stuttgart wandte er sich ab und entzog ihr die erteilte Vertretungsvollmacht.
Im Dezember 1962 erreichte er dann immerhin einen Vergleich. Das Land Baden-Württemberg gewährte Freymüller eine einmalige Beihilfe von 1000.- DM aus übergesetzlichen Haushaltsmitteln. Die beim Landesamt für die Wiedergutmachung geltend gemachten Entschädigungsansprüche wurden zurückgewiesen, „da die seinerzeitige Inhaftierung aus wehrwirtschaftlichen Gründen erfolgt ist und Verfolgungsgründe i. S. des § 1 BEG dabei keine Rolle gespielt haben“ (nach § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) gilt als entschädigungsfähig, „wer aus Gründen politischer Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus oder aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung“ verfolgt wurde).
Willy Freymüller, bis dahin ledig, heiratete in der Nachkriegszeit, hatte zwei Kinder und lebte in Stuttgart-Gaisburg. Von einer Entschuldigung oder einer Geste der Wiedergutmachung seitens der Firma Robert Bosch ist nichts bekannt.
Transkript des Schreibens Willy Freymüllers an den Präsidenten der Lagergemeinschaft Mauthausen, Otto Wahl in Stuttgart (Orthographie u. Interpunktion i. Orig.):
"Stuttgart 25.3.57
Sehr geehrter Herr Wahl!
Heute erhielt ich von Ihnen die Nachricht, mit der Bitte um eine Gabe für unsere lieben Kameraden. Dies lehne ich grundsätzlich ab. Sie können mich daher auch aus den Akten streichen. Hierfür habe ich jegliche Gründe. Man hat für mich seit 1946 bis heute noch nichts getan. Für meine langjährige K.Z.-Haft hat man mich in allen Fragen und jeglichen Unterstützungen ausgeschaltet, und auf die Seite geschoben.
Auch hat von Euch Herren, bis heute noch nicht bei mir persönlich angefragt, wie es mir geht.
Meine damalige, sowie meine derzeitige Lage, ist mir selbst überlassen. Durch die damalige körperliche Schäden, muss ich ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen. Am 22. diesen Monats, wurde ich durch meine körperliche Schäden vorgeladen. Durch Prof. Dr. Berner wurde eine Untersuchung vorgenommen. Über meine körperlichen Schäden, sowie über meinen Gesamtzustand schüttelte er nur mit dem Kopf. Mein Gewicht beträgt 120 Pfd. Ich weiß, dass Ihr, für mich kein Interessen habt, so hättet Ihr Euch für mich in dieser Hinsicht, auch einmal eingeschaltet, und dafür Sorge getragen, dass ich um Erholung bedürftig bin.
Mann könnte hier noch manches erwähnen.
Gruß Freymüller"
Die Markierung auf der Übersichtskarte zeigt Willy Freymüllers Wohnsitz vor seiner Verhaftung, 70190 Stuttgart, Hackstraße 18. Es finden sich auch die abweichenden Angaben Hackstraße 12 und 19.
Quellen und Literatur
ITS Digital Archive, Arolsen Archives
6.3.3.2 Korrespondenzakte T/D – 852249
1.1.26.3 Individuelle Häftlingsunterlagen KL Mauthausen – Willi Freymüller
1.1.6.2 Individuelle Häftlingsunterlagen KL Dachau – Willy Freymüller
Staatsarchiv Ludwigsburg EL 350 I Bü 2552
Privatarchiv Otto Wahl, Briefwechsel März 1957
Tilman Fichter / Eugen Eberle: Kampf um Bosch. Berlin 1974, S. 159 f.
Roland Maier: Die Arbeitserziehungslager, in: Ingrid Bauz u.a. (Hg.): Die Geheime Staatspolizei in Württemberg und Hohenzollern, Stuttgart 2013, S. 143-157.
www.mauthausen.guides.at./aussenlager/kz-aussenlager-grossraming
© Text und Recherche:
Roland Maier, Stuttgart
Stand: Oktober 2021
www.kz-mauthausen-bw.de
Von der Firma Robert Bosch der Gestapo ausgeliefert
27.05.1940 Verhaftung
03.08.1940 KZ Dachau
11.03.1941 KZ Gusen
21.11.1941 KZ Mauthausen
10.01.1944 KZ-Außenlager Großraming
29.08.1944 KZ Mauthausen
01.09.1944 KZ Gusen II („Bergkristall“, „Georgenmühle“)
05.05.1945 Befreiung
Willy Freymüller wurde am 5. März 1911 in Mannheim geboren. Die Eltern Ludwig und Emma Freymüller wohnten in Mosbach im heutigen Neckar-Odenwald Kreis.
Der gelernte Schreiner Willy Freymüller arbeitete in Mosbach als Bauarbeiter bei verschiedenen Betrieben sowie bei einem Abbruchunternehmen. 1939 kam er nach Stuttgart und war auch hier unter anderem bei einem Baugeschäft tätig. Mit Unterstützung durch seinen Schwager fand er nach mehreren Vorsprachen schließlich am 5. September 1939, also unmittelbar nach Kriegsbeginn, eine Anstellung bei der Firma Robert Bosch. Zunächst wurde er im Lichtwerk in Stuttgart-Feuerbach eingesetzt, sodann im Ölerwerk. Da er wiederholt Ausschuss-Stücke produzierte, wurde er von seinem Meister ermahnt und es kam in der Folge zu weitergehenden Differenzen, welche Freymüller dazu veranlassten, mehrfach der Arbeit fern zu bleiben.
Aus Sicht der Betriebsleitung war Freymüller damit ein Arbeitsverweigerer und ein Fall für die Gestapo. Die damalige Meldung der Firma Robert Bosch lautete wie folgt:
"An die
Geheime Staatspolizei
Staatspolizeileitstelle Stuttgart
OW/KWL/ Su/Dr. Stgt-Feuerbach, 27.5.1940
Unser Gefolgschaftsangehöriger Willy Freymüller, geb. 5.3.11 in Mannheim, wohnhaft in Stuttgart-O, Hackstr. 12, ist seit 5. September 1939 als Maschinenarbeiter bei uns beschäftigt.
Er fehlte am 24.10.39 1 Tag entschuldigt
25.10.39 1 Tag unentschuldigt
vom 3.11.-28.11.39 22 Tage angeblich wegen Krankheit
am 12.2.40 1 Tag angeblich wegen Krankheit
am 27.2.40 1 Tag angeblich wegen Krankheit
am 16.3.40 1 Tag unentschuldigt
vom 20.3-8.4.40 16 Tage Betriebsunfall (Quetschwunde am r. Mittelfinger)
vom 1.5.-11.5.40 10 Tage Folgen des Betriebsunfalls (wurde am 10.5. durch den Vertrauensarzt der Ortskrankenkasse gesundgeschrieben)
vom 16.5.40-18.5.40 3 Tage unentschuldigt
vom 21.5.40-25.5.40 5 Tage unentschuldigt
zusammen 61 Tage
Bei der Ortskrankenkasse war F. nur während der Zeit vom 19.3.-7.4.40 und vom 6.5.-10.5.40 krankgemeldet.
Wir haben Freymüller heute durch unseren Werksicherheitsbeamten holen lassen. Er gab an, bei Frau Dr. Bötzel, Stuttgart, in Behandlung zu sein.
Auf unsere tel. Anfrage teilte uns Frau Dr. Bötzel mit, dass F. am Donnerstag, den 23.5. wegen Magenbeschwerden zu ihr in die Sprechstunde gekommen sei. Sie habe ihn zur Durchleuchtung ins Katharinenhospital geschickt. Dort war er am Freitag. Es konnte aber nichts gefunden werden. Frau Dr. Bötzel wird ihn daher sofort gesundschreiben.
Wir stellen den Antrag auf Bestrafung dieses arbeitsunwilligen Gefolgschaftsangehörigen.
Zu ihrer Orientierung teilen wir Ihnen mit, daß Freymüller der Schwager des Bruders von Helmut Schneider ist, bei dem sich Letzterer während seiner Fehlzeit öfters aufhielt.
Heil Hitler
gez. Schumacher“
Die Staatspolizei kannte keine Gnade. Sie „holte“ Freymüller am 5. Juni 1940 ab. Am 3. August 1940 wurde er durch die Stapoleitstelle Stuttgart aus der Polizeihaft wegen Arbeitsverweigerung in das Konzentrationslager Dachau eingeliefert. Eine KZ-Einweisung wegen dieses Vergehens stellte für einen Arbeiter – sofern er die deutsche Staatsangehörigkeit besaß – eine ungewöhnlich drakonische Maßnahme dar, die abschreckend wirken und innerbetrieblich ein Klima der Einschüchterung schaffen sollte. Dabei wären reguläre arbeitsrechtliche Schritte durchaus möglich gewesen, wie die Firma in einem warnenden Aushang vom 26. März 1940 selbst kund tat: ein Ölerwerk-Kollege des Willy Freymüller wurde, ebenfalls wegen Fehlzeiten, vom Landgericht Stuttgart wegen Arbeitsvertragsbruch zu vier Monaten Gefängnis verurteilt. Offenbar erschien der Betriebsleitung eine solche Bestrafung als zu milde.
Die Firma Robert Bosch pflegte in der Nachkriegszeit das Image eines widerständigen Unternehmens. Immerhin konnte man darauf verweisen, dass die Betriebsleitung mit der NS-Wirtschaftspolitik nicht konform gegangen war, dass man aus humanitären Gründen jüdische Verfolgte unterstützt hatte und dass man mit einigen Fäden mit dem Widerstandsnetz des 20. Juli verknüpft gewesen war. Wie jedoch der Fall Freymüller beweist, hegte man bei Bosch durchaus keine Skrupel, einen Mitarbeiter, mit dessen Arbeitsleistung man unzufrieden war, dem Gestapo-Terror auszuliefern. Und dies weder auf äußeren Druck noch aus Opportunitätsgründen (die bekannten Vorbehalte einiger Naziführer gegenüber der Firma ließen sich dadurch, dass man einen unbedeutenden Mitarbeiter bei der Gestapo denunzierte, wohl kaum zerstreuen), sondern aus freien Stücken um die eigene Belegschaft gefügig zu machen. Angesichts eines leergefegten Arbeitsmarkts hatte das Druckmittel der Arbeitsvertragskündigung seine Wirkung weitgehend verloren. Aus der Warte der Firmenleitung scheint es sich in diesem Fall um einen Akt der „Generalprävention“ gehandelt zu haben. Die Inhaftierung durch die Gestapo und Einweisung ins Konzentrationslager bedeutete für die Firma keinen direkten wirtschaftlichen Vorteil, sondern hatte vielmehr den Nachteil, dass der säumige Mitarbeiter nun vollends und auf unbestimmbare Zeit hinaus ausfiel. Viele andere Unternehmen vermieden es aus diesem Grund, Betriebsangehörige wegen Fehlzeiten und anderen Säumnissen der Gestapo zu melden. Um diese Hemmschwelle für die Firmen herabzusetzen, bot die Gestapo denn auch ab Sommer 1941 das Instrument einer sogenannten „Arbeitserziehungshaft“ an. Diese wurde in gestapoeigenen Lagern vollzogen und war zeitlich auf acht Wochen begrenzt. Im Fall Freymüller stand dieses polizeiliche Disziplinierungsinstrument allerdings noch nicht zur Verfügung.
Im Konzentrationslager Dachau erhielt Freymüller die Häftlingsnummer 14115 und die Haftkategorie „Schutz“. Er wurde dem Häftlingsblock 6/3 zugewiesen. Nach über einem halben Jahr wurde er für Steinbrucharbeiten bestimmt und kam mit einem Transport von 150 deutschen „Steinmetzlehrlingen“ am 11. März 1941 in das KZ Mauthausen-Gusen (Häftlingsnummer 11030). Hier musste er für das SS-Unternehmen „Deutsche Erd- und Steinwerke GmbH“ (DESt) Zwangsarbeit leisten und war Misshandlungen seitens der Lager-SS ausgesetzt. So bezog er 25 Stockhiebe, deren Spuren noch lange nach der Befreiung am Körper sichtbar waren. Es folgten mehrere Verlegungen innerhalb des Mauthausenkomplexes. Im November kam er ins Mauthausen-Hauptlager (Häftlingsnummer 1565). Im Januar 1944 folgte die Verlegung in das etwa 30 Kilometer südöstlich der Stadt Steyr gelegene Außenlager Großraming, das dem Bau eines Wasserkraftwerks an der Enns diente. Da die Bauarbeiten dort im September 1944 eingestellt wurden, kam Freymüller mit den verblieben Häftlingen am 29. August zurück ins Hauptlager Mauthausen, von wo er sogleich weiter nach Gusen verlegt wurde und wieder als „Steinmetz“ arbeiten musste; allerdings nur einige Tage, denn mittlerweile hatten kriegswirtschaftliche Erfordernisse Priorität. So kam er zum Einsatz beim Gusen-Produktionskomplex „Bergkristall“, einem unterirdischen Werk zur Großserienproduktion von Jagdflugzeugen. Als letzter Arbeitsort ist in Freymüllers KZ-Personalkarte vermerkt: Gusen-Georgenmühle. „Georgenmühle“ war, weil bei dem Ort St. Georgen an der Gusen gelegen, die interne Bezeichnung für das Kommando Rüstung Steyr-Daimler-Puch AG. Nach dem „Zusammenbruch“ konnte Freymüller nach seinen eigenen Worten am 5. Mai 1945 „weglaufen“. Er verfügte daher über keine Entlassungspapiere und Haftnachweise.
Bei seiner Rückkehr nach Stuttgart galt Freymüller als politisch Verfolgter. Die Stuttgarter „KZ-Prüfstelle“ – angesiedelt in der ehemaligen Gestapo-Zentrale „Hotel Silber“ – teilte der in der Stuttgarter Mörikestraße 24 ansässigen Rückführungsstelle ehemaliger politischer Häftlinge mit, dass Freymüller als politischer Häftling zu führen sei. Auch sei er „als politisch Aktiver“ bei der Wohnungszuweisung zu berücksichtigen. Freymüller erhielt im Nelkenweg 8 in Stuttgart-Ost eine Wohnung; seit September 1945 war er bei der Stuttgarter Straßenbahn als Schaffner tätig. 1946 erhielt er in Dachau den Ausweis für politisch Verfolgte. Noch am 2. Januar 1947 wurde Freymüller von der zuständigen Stuttgarter Kriminalabteilung D 11 als politisch Verfolgter der Kategorie „1 b“ eingestuft. Ein Ermittlungsbericht dieser Abteilung vom 21. Mai 1948 kam allerdings zu einem völlig anderen Resultat. Ein Zeuge habe erklärt, dass Freymüller nicht aus politischen Gründen, sondern wegen Arbeitsverweigerung inhaftiert worden sei. Zwar bestätigten seine ehemaligen Mithäftlinge Wilhelm Baust und Wilhelm Pflederer, dass Freymüller in den Lagern das Abzeichen der "Politischen", den „roten Winkel“, getragen hatte. Dennoch hielt man es nun für einwandfrei erwiesen, dass die seinerzeitige Verhaftung - immerhin durch die Gestapo, die nationalsozialistische politische Polizei - nicht aus politischen Motiven erfolgt sei. Freymüller, so hieß es, würde allgemein als ein unpolitischer Mensch bezeichnet, dem eine Stellungnahme gegen den Nationalsozialismus „nicht zugetraut“ würde.
Danach rang Freymüller lange Zeit um seine Anerkennung als politisch Verfolgter. Denn, so sein kaum von der Hand zu weisendes Argument, seine fast fünfjährige KZ-Haft stehe in keinem Verhältnis zu seinem mehrfachen Nichterscheinen am Arbeitsplatz bei der Firma. Schließlich hatte es sich ja, bei näherer Betrachtung, um nicht einmal zehn Tage unentschuldigten Fehlens gehandelt. In der Nachkriegszeit zeigte sich der NS-Verfolgte zunehmend verbittert, wie dies in seiner mit Vorwürfen gespickten Beantwortung eines Schreibens an den Präsidenten der Lagergemeinschaft Mauthausen in der Bundesrepublik, Otto Wahl, vom 25. Mai 1957 zum Ausdruck kam: „Man hat für mich seit 1946 bis heute noch nichts getan. Für meine langjährige K.Z.-Haft hat man mich in allen Fragen und jeglichen Unterstützungen ausgeschaltet, und auf die Seite geschoben“ (Faksimile des Briefs mit Transkription siehe unten).
1962 wandte Freymüller sich in seiner Entschädigungssache an das Bundespresseamt, das ihn an den Zentralverband demokratischer Widerstandskämpfer und Verfolgtenorganisationen, einen Dachverband dezidiert antikommunistischer Prägung verwies. Doch auch von dieser Seite kam keine Hilfe. Von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) Stuttgart wandte er sich ab und entzog ihr die erteilte Vertretungsvollmacht.
Im Dezember 1962 erreichte er dann immerhin einen Vergleich. Das Land Baden-Württemberg gewährte Freymüller eine einmalige Beihilfe von 1000.- DM aus übergesetzlichen Haushaltsmitteln. Die beim Landesamt für die Wiedergutmachung geltend gemachten Entschädigungsansprüche wurden zurückgewiesen, „da die seinerzeitige Inhaftierung aus wehrwirtschaftlichen Gründen erfolgt ist und Verfolgungsgründe i. S. des § 1 BEG dabei keine Rolle gespielt haben“ (nach § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) gilt als entschädigungsfähig, „wer aus Gründen politischer Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus oder aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung“ verfolgt wurde).
Willy Freymüller, bis dahin ledig, heiratete in der Nachkriegszeit, hatte zwei Kinder und lebte in Stuttgart-Gaisburg. Von einer Entschuldigung oder einer Geste der Wiedergutmachung seitens der Firma Robert Bosch ist nichts bekannt.
Transkript des Schreibens Willy Freymüllers an den Präsidenten der Lagergemeinschaft Mauthausen, Otto Wahl in Stuttgart (Orthographie u. Interpunktion i. Orig.):
"Stuttgart 25.3.57
Sehr geehrter Herr Wahl!
Heute erhielt ich von Ihnen die Nachricht, mit der Bitte um eine Gabe für unsere lieben Kameraden. Dies lehne ich grundsätzlich ab. Sie können mich daher auch aus den Akten streichen. Hierfür habe ich jegliche Gründe. Man hat für mich seit 1946 bis heute noch nichts getan. Für meine langjährige K.Z.-Haft hat man mich in allen Fragen und jeglichen Unterstützungen ausgeschaltet, und auf die Seite geschoben.
Auch hat von Euch Herren, bis heute noch nicht bei mir persönlich angefragt, wie es mir geht.
Meine damalige, sowie meine derzeitige Lage, ist mir selbst überlassen. Durch die damalige körperliche Schäden, muss ich ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen. Am 22. diesen Monats, wurde ich durch meine körperliche Schäden vorgeladen. Durch Prof. Dr. Berner wurde eine Untersuchung vorgenommen. Über meine körperlichen Schäden, sowie über meinen Gesamtzustand schüttelte er nur mit dem Kopf. Mein Gewicht beträgt 120 Pfd. Ich weiß, dass Ihr, für mich kein Interessen habt, so hättet Ihr Euch für mich in dieser Hinsicht, auch einmal eingeschaltet, und dafür Sorge getragen, dass ich um Erholung bedürftig bin.
Mann könnte hier noch manches erwähnen.
Gruß Freymüller"
Die Markierung auf der Übersichtskarte zeigt Willy Freymüllers Wohnsitz vor seiner Verhaftung, 70190 Stuttgart, Hackstraße 18. Es finden sich auch die abweichenden Angaben Hackstraße 12 und 19.
Quellen und Literatur
ITS Digital Archive, Arolsen Archives
6.3.3.2 Korrespondenzakte T/D – 852249
1.1.26.3 Individuelle Häftlingsunterlagen KL Mauthausen – Willi Freymüller
1.1.6.2 Individuelle Häftlingsunterlagen KL Dachau – Willy Freymüller
Staatsarchiv Ludwigsburg EL 350 I Bü 2552
Privatarchiv Otto Wahl, Briefwechsel März 1957
Tilman Fichter / Eugen Eberle: Kampf um Bosch. Berlin 1974, S. 159 f.
Roland Maier: Die Arbeitserziehungslager, in: Ingrid Bauz u.a. (Hg.): Die Geheime Staatspolizei in Württemberg und Hohenzollern, Stuttgart 2013, S. 143-157.
www.mauthausen.guides.at./aussenlager/kz-aussenlager-grossraming
© Text und Recherche:
Roland Maier, Stuttgart
Stand: Oktober 2021
www.kz-mauthausen-bw.de